„Mich interessieren Figuren, die über viel Sensibilität verfügen“

Foto © MarisaVranješ

In ihrem zweiten Roman Atemhaut, zu dem die Klangkünstlerin Rojin Sharafi den passenden Soundtrack komponiert hat, zeichnet die Wiener Autorin und Filmemacherin Iris Blauensteiner das feinfühlige Porträt eines jungen Mannes gelungen, der seine Identität in einer Welt voller Automatisierungsprozesse neu definieren muss. Im Interview gibt die Autorin Einblicke in die Entstehung ihres Romans und spricht Themen an, die sie mit diesem Roman zur Sprache bringen möchte.

Wie schon der Titel Atemhaut erkennen lässt, lernen wir den Protagonisten vor allem durch die Reaktionen seines Körpers kennen, was uns ermöglicht, seine Erlebnisse nachempfinden zu können. Wie war das für dich während des Schreibprozesses, quasi unter die Haut von jemanden anderen zu schlüpfen? Hast du dabei eine bestimmte Methode angewandt, um dich in Edin hineinzuversetzen?

Mich interessieren Figuren, die über viel Sensibilität verfügen, feinstoffliche Menschen sind, in ihren Höhen und Tiefen. Der Protagonist Edin ist Arbeiter in einem Logistikunternehmen. Ich habe mich gefragt, welche sensitiven Wahrnehmung, welche Empfindungen er, der sich sehr über körperliche Arbeit definiert, haben könnte. Der Text entstand teils aus einem sehr direkten, körperlichen Zugang. Ich finde Anknüpfungspunkte, Berührungspunkte, indem ich erst in einer assoziativen Methode, möglichen Textteilen näherkomme und damit auch der empathischen Vorstellung eines anderen Menschen, einer Figur. Fragmente verbinden sich nach und nach durch Montage, Streichungen und Ordnungen im Laufe des Schreibens. „Scharniere“ kann ich finden, indem ich Situationen selbst aufsuche. Auch schöpfe ich aus Erinnerungen an Erlebenselemente, die ich selbst kenne, die ich erzählt bekommen oder beobachtet habe oder ich richte aktuell Aufmerksamkeit in meiner Umgebung darauf. Das Sprachliche und das Inhaltliche wachsen gemeinsam. Thema des Buchs ist der menschliche Körper im Kontrast zu Maschinen – als ästhetische Annäherung an ein sozialkritisches Thema.

Iris Blauensteiner, Atemhaut, Kremayr & Scheriau 2022, 160 Seiten, € 20.

Auch die Du-Perspektive trägt dazu bei, dass sich die Leser*innen sehr schnell mit Edin verbunden fühlen. Was hat dich an dieser doch eher ungewöhnlichen Erzählweise gereizt?

Ich sehe den Text als eine Erzählung aus der Ich-Perspektive, allerdings wird das Ich als Du angesprochen. Edin ist neben sich. Das Bewusstsein verhält sich sozusagen „entrückt“ zum Ich, wird surreal, was mit Edins Eigenwahrnehmung in Korrespondenz steht. Im Laufe des Textes ist es seine Aufgabe sein Ich zurückzuerobern.

Edins Leben wird von Computern bestimmt, das hat, wie sich zeigt, Vor-und Nachteile. Zum einen übernehmen sie seine Arbeit, zum anderen ermöglichen sie ihm die Flucht in eine alternative Realität. Könntest du dir ein Leben ohne Computer vorstellen?

Die Geschichte ist Ende der 90er Jahre angesiedelt, zu einer Zeit als Maschinen auf verschiedenen Ebenen immer mehr in den menschlichen Alltag einziehen und menschliche Beziehungen und Identitäten verschieben, auch was z.B. Virtualität und Abstraktion betrifft oder auch neue Rollen, die sich für jede*n einzelne*n auftun. 

Ich selbst habe ein Hineinwachsen von Computern in den Alltag während meinem eigenen Aufwachsen in einer bestimmten Form mitbekommen. In den 90er Jahren gab es allerdings immerhin meist noch die Möglichkeit oder Notwenigkeit, Computersysteme ein- und auszuschalten. Ein Leben ohne Computer kann ich mir nicht vorstellen, aber das steht heute auch, denke ich, gar nicht mehr zur Wahl. Wir leben in extrem enger Verbindung. 

In deinem Roman werden viele wichtige Themen angesprochen, so etwa auch der Leistungsdruck an dem Edin schließlich scheitert und die schwierige Zeit in der Arbeitslosigkeit. Sind das deiner Meinung nach Themen, über die mehr gesprochen werden sollte?

Automatisierung und Digitalisierung schafft viele Berufe ab und zugleich wächst der Druck von Prekariat, Eigenverantwortung und Leistungsmaximierung. Ich habe mich gefragt: Was macht das mit Menschen? Welche Orte in der Gesellschaft, die sich so sehr über Arbeit und Leistung definiert, bleiben?

Edin lebt in einem Narrativ von Aufgehoben-Sein, einen Platz haben, erst genug sein, wenn man bloß genug leistet. Als er dann aber entlassen wird, ist alles anders, er muss sich grundsätzliche Fragen stellen, ob und wie und wo er sich anpassen kann, ohne einen Sinn für sein Selbst zu verlieren. Alternativen zu entwickeln, braucht erstmal enorm viel Fantasie und Stärke, und dann tatsächliche Handlungsschritte. Das ist der innere Zwist, der Edin spannend macht. 

Ich finde, über diese aktuellen Dynamiken, Widersprüche, Atmosphären und Sinneswahrnehmungen, die der Arbeitsmarkt von Menschen fordert, sollte gesprochen werden, ja.

Begleitend zum Buch gibt es einen eigenen Soundtrack. Wie ist die Idee dazu entstanden? 

In meinen Textfassungen hatte ich viele klangliche Beschreibungen – Geräusche, Stimmen, Atmosphären, Musik. Ich habe Rojin Sharafi, mit der ich schon bei meinem Film „die_anderen_bilder“ zusammengearbeitet habe, gefragt, ob sie Interesse hat und sich vorstellen könnte, Sound für einen literarischen Text zu machen. Rojin komponiert akustische und elektronische Musik, ich schätze sie sehr. Wir gelangten zur experimentellen Idee von metallischen Klängen, die im Kontrast zu menschlichen Geräuschen stehen. Text und Sound entstanden teilweise auch parallel.

Zum Soundtrack gelangt man über QR-Codes im Buch. Erweiternd zu einer Lesung gibt es auch die Möglichkeit einer Literatur/Sound-Performance von Rojin und mir, in der wir mit dem Lesungs/Konzert-Format experimentieren. Dankbar bin ich auch, dass sich der Verlag Kremayr & Scheriau auf dieses interdisziplinäre Experiment eingelassen hat.


Iris Blauensteiner, geboren 1986 in Wien. Autorin und Filmemacherin. Diplome der Bildenden Kunst und der Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Startstipendium für Literatur des bmkös 2021, Preis des Drehbuchwettbewerbs If she can see it, she can be it des Drehbuchforum Wien 2019, Award beim Alternative Film/Video Festival Belgrade 2018, Förderungspreis für Literatur der Stadt Wien 2018, Pixel, Bytes & Film – Artist-in-Residence ORF III & Arte Creative 2017 und Aufenthaltsstipendium am Literarischen Colloquium Berlin 2017. Der Roman Kopfzecke erschien 2016 bei Kremayr & Scheriau.

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