Ein Leben in Bildern: Lukas Kummers Der Atem

REZENSION Barbara E. Seidl 14. Oktober 2021

Einen Prosatext als Graphic Novel zu adaptieren ist mit einigen Herausforderungen verbunden, vor allem im Fall von Texte, in denen kaum oder gar keine Dialoge vorkommen. Mit Der Atmen widmet sich Lukas Kummer nun dem dritten Band aus Thomas Bernhards „Autobiographischen Schriften“. Nach seinen Bearbeitungen von Die Ursache (2018) und Der Keller (2019) hat er mittlerweile, wie er im Interview meint, die Formel zur Umsetzung von Bernhards Schreiben.

Der Atem, der im Mittelpunkt von Bernhards Autobiographie steht, erzählt von der Zeit, als der achtzehnjährige Bernhard mit einer schweren Rippenfellentzündung ins Krankenhaus eingeliefert und aufgrund der geringen Aussicht auf Genesung in das „Sterbezimmer“ gelegt wurde. Zeitgleich mit Bernhard wurde auch dessen Großvater, seine zu diesem Zeitpunkt wichtigste Bezugsperson, mit zunächst unbekannter Diagnose im gleichen Krankenhaus aufgenommen. Während sich Bernhards Zustand wider allen Erwartungen allmählich bessert, erliegt der Großvater den Folgen einer Operation.

Wie bereits bei seinen ersten beiden Bernhard Adaptionen bestechen Kummers Zeichnungen durch eine eindringliche Bildsprache, die Bernhards Sprachbilder einfühlsam wiedergibt und dabei gleichzeitig interpretiert.

Lukas Kummer, Thomas Bernhard der Atem, Residenz Verlag, 2021, 112 Seiten, €22.
Lukas Kummer, geboren 1988 in Innsbruck. 2007 zog er nach Kassel, um Illustration und Comic zu studieren. Seit 2009 arbeitet er als Illustrator, Autor, Storyboard Artist und Gestalter. 2014 Studienabschluss bei Hendrik Dorgarthen. Seine Arbeiten wurden in Fanzines und Anthologien veröffentlicht, u.a. in „Triebwerk“, „Tisch 14“ und „Batterie“, seine erste Graphic Novel „Die Verwerfung“ erschien 2015, „Die Gotteskrieger“ 2017. Seine Thomas Bernhard-Graphic Novels „Die Ursache“ (2018, Comic-Bestenliste), „Der Keller“ (2019) und „Der Atem“ (2021) finden begeisterten Anklang.

Bernhards Hang zur Aneinanderreihung beschreibender Nebensätze spiegelt sich in Kummers Bildwiederholungen wider, die den Lesenden die beklemmende Stimmung im Krankenhaus vergegenwärtigen. Auch die verschwommene Wahrnehmung und die trostlose Umgebung aus der Perspektive des Kranken hat der Künstler sehr anschaulich umgesetzt. Die geradlinigen Zeichnungen ergeben nicht nur ästhetisch sehr anspruchsvolle Bilder. Das Spiel mit Licht und Dunkelheit reflektiert auch Bernhards Zwiespalt zwischen schöpferischer Kraft und Leiden.

Der Atem ist ein sehr schönes Beispiel einer Graphic Novel, in der Text und Bild in einen Dialog mit einander treten. Lukas Kummer erzählt Bernhards Text mit visuellen Mitteln so behutsam nach, dass die Bilder auch ohne Text lesbar wären. Wie bereits die beiden ersten Bände ist auch Der Atem eine gelungene Interpretation eines spannenden Dokuments, die auf eine Bearbeitung der letzten beiden Teile von Bernhards autobiographischen Schriften hoffen lässt.


Barbara E. Seidl ist freie Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Trainerin für Deutsch und Englisch als Fremdsprache.

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