Sich (nicht) spüren können: Katharina Schallers Unterwasserflimmern

REZENSION Barbara E. Seidl 5. April 2021

Sich spüren können – bewußt die eigene Haut, die Grenzen des eigenen Körpers wahrnehmen, das was im Inneren geschieht, organisch wie emotional. Inmitten des Alltagstrotts, der von Verpflichtungen und Erwartungen geprägt ist, fällt es leicht, sich zu verlieren. Die eigenen Wünsche und Befindlichkeiten werden ignoriert oder gar nicht erst wahrgenommen.

In Unterwasserflimmern beschreibt Katharina Schaller das Spüren aus der Sicht einer jungen Frau. Die namenlose Protagonistin ist Anfang dreißig und steht-zumindest oberflächlich betrachtet- mitten im Leben: sie hat einen Job, der ihr Spaß macht und einen Partner, der seine Zukunftsträume mit ihr in Form von Hausentwürfen auf Papier skizziert. Einziger Haken daran: die Protagonistin fühlt sich deplatziert. Seit längerem schon hat sie neben ihrer Beziehung mit dem zukunftsorientierten Architekten Emil noch eine Affaire mit dem verheirateten Familienvater Leo, und lässt sich auch sonst immer wieder auf spontane sexuelle Begegnungen ein.

Schallers Protagonistin ist eine Gefangene ihres Sich-Nicht-Mehr-Spüren-Könnens. Hin-und-hergerissen zwischen der Suche nach Nähe und der Sehnsucht nach Freiheit steckt sie fest in ihrem Leben, das von den Erwartungen anderer bestimmt ist, bis es ihr schließlich doch gelingt, auszubrechen.

Mit ihrer direkten, unverblümten Darstellung von Körperlichkeit und Sexualität lotet die Autorin Grenzen aus, die geschlechtsspezifische Unterschiede im Hinblick auf gesellschaftlicher Tabus markieren und provoziert da, wo es eigentlich keinen Grund mehr geben sollte, sich provoziert zu fühlen.

Foto: Emanuel Aeneas Photography

Katharina Schaller ist eine Unruhestifterin im besten Sinne: Was sie zu sagen hat, bewegt. Ihre Sprache öffnet Poren, verwandelt Lesen in Spüren. Sie wurde 1989 in Innsbruck geboren und studierte Sprachwissenschaften. Heute arbeitet sie als Literaturscout und Text- und Konzeptentwicklerin für die Verlagsgeschwister Löwenzahn und Haymon. Ihr Romandebüt „Unterwasserflimmern“ (2021) ist bei Haymon erschienen, 2020 erhielt sie den Literaturpreis der Universität Innsbruck.

Katharina Schaller, Unterwasserflimmern. Haymon Verlag. 240 Seiten, €22,90.

Sicherlich, einiges, von dem was die Protagonistin von Unterwasserflimmern treibt, ist unreif und viele ihrer Entscheidungen sind unüberlegt und egoistisch. Dennoch unterscheidet sich ihr Handeln kaum von jenem der meisten anderen Charaktere, die ihrerseits ebenfalls ihre jeweiligen Partner betrügen.

Selbstbewußt nimmt Schallers Protagonistin die Reaktionen ihres Körpers wahr, während in ihrem Inneren eine Leere herrscht, die auch Liebesabenteuer, Alkohol und Drogen nicht zu füllen vermögen. Erst als sie ausreißt findet sie die Zeit um Dinge zu reflektieren, sich selbst besser zu spüren.

Unterwasserflimmern ist ein beeindruckendes Romandebüt. Mit ihrer unmittelbaren Erzählweise reißt die Autorin ihre Leser*innen von der ersten Seite mit hinein in einen Bewusstseinsstrom, durch dunkle, trübe Gewässer bis zum großen weiten Meer voller ungeahnter Möglichkeiten.

Wie die Leser*innen auf die ungeschönten Schilderungen jenseits romantischer Beziehungsideale letztendlich auch reagieren, Katharina Schallers Unterwasserflimmern wird sie in keinem Fall unberührt lassen.


Barbara E. Seidl ist freie Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Trainerin für Deutsch und Englisch als Fremdsprache.

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