REZENSION, Barbara E. Seidl, 09. Jänner 2021
Die Welt um uns zerbricht in Stücke, es gibt keinen Ort mehr, an dem wir uns gänzlich in Sicherheit wiegen können. Wie gehen wir damit um? Schaffen wir es dennoch, uns und unsere Familie durch diese schwierige Zeit zu manövrieren? Diesen Fragen müssen sich auch heute noch viele Menschen stellen, die das Pech haben, zur falschen Zeit an einem Ort geboren zu sein, an dem Unruhen, Krieg und damit verbundene Not und Unsicherheit herrschen.
Wie schnell es gehen kann, dass eine relativ unbekümmerte Lebenswelt in ihren Grundfesten erschüttert wird, zeigt sich in Tanja Paars Die zitternde Welt. Der Roman erzählt von Maria, einer jungen Frau aus einfachen Verhältnissen, die im Jahr 1896 hochschwanger aus dem oberösterreichischen Leonding zu Kindesvater Wilhelm ins osmanische Bünyan reist, wo dieser als Eisenbahningenieur mit dem Ausbau der Bagdadbahn beschäftigt ist. Dort, in ihrem „anatolischen Paradies“, meint Maria, eine neue Heimat gefunden zu haben.

Tanja Paar, Die zitternde Welt. Roman. Hamon Verlag, 2020. 300 Seiten, € 22,90
Doch dann wirft die Weltpolitik ihre Schatten über die Idylle. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bleibt der für damalige Verhältnisse etwas unkonventionellen Familie (das Paar heiratet erst, als das vierte Kind bereits fünf Jahre alt ist) kein anderer Weg, als zurück nach Österreich zu gehen. Während rund um sie die Welt, die sie kannten, auseinanderbricht, beginnt auch der Familienverband nach und nach zu zerfallen.
In Die zitternde Welt wirft Tanja Paar einige Fragen auf, die auch heute noch Gültigkeit haben. So wird etwa der Begriff Heimat zu einem zentralen Thema, das die Figuren Zeit ihres Lebens beschäftigt. So wie Maria sich in ihr anatolisches Haus zurücksehnt, so fühlen sich auch ihre Tochter und die beiden Söhne eng mit ihrem osmanischen Geburtsort verbunden. Dennoch wird etwa Erich, der schließlich in die Türkei zurückkehrt, aufgrund seines Aussehens nicht als Türke wahrgenommen, sondern trotz seiner guten Sprachkenntnisse stets als Fremder behandelt.

Doch der Roman hinterfragt den Begriff Heimat nicht nur im Sinne einer örtlichen Verbundenheit, sondern auch in Bezug auf das Zugehörigkeitsgefühl innerhalb des Familienverbands. Wie stark ist die Verbindung, die eine Familie zusammenschweißt? Hält sie auch in Extremsituationen den Erschütterungen stand oder stellt letztendlich doch jede/r das eigene Glück vor das der anderen? Maria, die in Anatolien abseits der Konventionen ihrer Zeit ein selbstbestimmtes Leben genießt, kommt später nur schwer damit zurecht, dass sich ihre Kinder den an sie gestellten Erwartungen widersetzen.
Das Bild einer brüchig gewordenen Welt wird von Paar aus mehreren Blickwinkeln gezeichnet: Vom Auseinanderbrechen großer Reiche, über den Zerfall einer Familie, bis hin zur Erzählperspektive, die sich im zweiten Teil des Romans von Maria auf ihre Kinder aufteilt und so die Aufspaltung der dargestellten Lebenswelt auch stilistisch nachempfindet.
Tanja Paars Die zitternde Welt ist ein historischer Roman, der weit über die Dimension der beschriebenen Zeit hinausreicht. Aufgrund zeitloser Themen, die auch heute noch aktuell sind, schafft der Roman den Balanceakt einer Lektüre, die es gleichzeitig ermöglicht, in eine andere Welt abzutauchen und dabei die eigene zu reflektieren.

Barbara E. Seidl ist freie Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Trainerin für Deutsch und Englisch als Fremdsprache.