„Anatolien steht symbolisch für alle Sehnsuchtsorte dieser Welt“

Was bedeutet Heimat? Ist das der Ort, an dem wir geboren wurden, die Personen, die uns nahe stehen, oder auch einfach nur ein Gefühl? In ihrem Roman, Die zitternde Welt geht Tanja Paar der Frage nach Heimat anhand der Geschichte einer Familie nach, deren Zugehörigkeitsgefühl in Zeiten des Umbruchs immer wieder auf die Probe gestellt wird.

Der erste Teil Ihres Romans, Die zitternde Welt, spielt zur vorletzten Jahrhundertwende in Anatolien. Was macht das Besondere an dieser Epoche aus? 

Ich wollte das Buch zu einer Zeitenwende spielen lassen, um die alte und die neue Welt zu zeigen. Der Erste Weltkrieg war ein schrecklicher, ungeheurer Einschnitt, der sich auch sprachlich niedergeschlagen hat und neue Formen der literarischen Moderne hervorgebracht hat. Ich wollte die Auflösung zeigen, die der Konventionen, der Gesellschaft, der Geschlechterrollen, mit all den Kämpfen, die damit verbunden sind bis heute. Gleichzeitig wollte ich ein humorvolles Buch schreiben, das Klischees unterläuft: Deswegen pflückt z.B. Maria Frederic das Edelweiß und nicht umgekehrt.

Anatolien wird für die zentralen Figuren des Romans zu einem Sehnsuchtsort, zur eigentlichen Heimat in die sie später gerne wieder zurückkehren möchten. Haben Sie selbst auch einen engen Bezug zu dieser Gegend? 

Nein, ich habe Anatolien nie bereist. Anatolien steht symbolisch für alle Sehnsuchtsorte dieser Welt, für die Heimaten, aus denen wir vertrieben wurden. Das deutet auch das auf den Kopf gestellte Cover mit dem Orangenbaum und seinen Paradiesäpfeln an. Ich stelle in meinem Buch die Frage: Was bedeutet Heimat? Ist es ein Land, eine Sprache, ein Ort, an dem wir geboren wurden? Oder ist es ein Gefühl, ein Geruch, eine Emotion? Oder eine bewusste Entscheidung für eine bestimmte Lebensweise? Inwieweit können wir entscheiden, was für uns Heimat bedeutet?

Die Entstehung von Die zitternde Welt war sicherlich auch mit einiger Recherchearbeit verbunden, da ein Bereisen der Bagdad-Bahnstrecke zurzeit ja leider nicht möglich ist…

Ja, ich habe dafür rund drei Jahre recherchiert. Ausgangspunkt waren die Fluchtbewegung der Jahre 2015 / 2016 und die damit verbundene Frage: Was ist ein „Wirtschaftsflüchtling“? Ich finde diesen Begriff obszön. Ich habe begonnen, mich stärker mit den Ländern zu beschäftigen, aus denen viele dieser Menschen kamen, Syrien, Irak, beides Nachfolgestaaten des Osmanischen Reichs. Die Gier nach dem Erdöl löst bis heute Kriege aus. Meine Protagonistin Maria ist eine jener Frauen, die ihren Söhnen falsche Identitäten beschafft, um deren Leben zu retten.

Die zitternde Welt beschreibt eine Zeit des Umbruchs und des Zerfalls, aus weltpolitischer Sicht aber auch innerhalb der Familie. Sehen Sie darin Parallelen zur heutigen Situation in manchen Regionen entlang der Bagdad-Bahn? 

Ja. Aber nicht nur zwischen Berlin und Bagdad. Ich wollte etwas Einmaliges erzählen, das auf etwas Allgemeines hinweist, das uns – im besten Fall – darüber nachdenken lässt, wie es heute ist auf der Welt.

Viele Leserinnen werden am Ende neugierig sein, wie es mit Marias Tochter Irmgard weitergeht. Könnten Sie sich eine Fortsetzung, oder vielleicht sogar eine Verfilmung des Romans vorstellen?

Oh, ja. Ich bin selbst neugierig, wie es mit ihr weitergeht. Auch eine Verfilmung wäre sehr schön, ist aber wegen der vielen exotischen Schauplätze, Bagdad, Istanbul, Konya, eher unwahrscheinlich. Aber für mein erstes Buch, „Die Unversehrten“, liegt bereits ein Treatment vor und ich hoffe, dass es trotz Corona einmal ein Film wird. Der Roman spielt in Wien, Berlin und Bologna, ist also nicht so teuer in der filmischen Umsetzung.


Tanja Paar wurde in Graz geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie und arbeitete u. a. am Theater, für diverse Publikationen, als Journalistin und Moderatorin. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin in Wien. Ob an den Rändern der Kontinente, zu Zeiten großer politischer Umbrüche oder in den nur scheinbar kleinen Dramen des Alltags: Die Figuren in Tanja Paars Romanen stehen vor inneren und äußeren Grenzen – und vor der Frage, wie sie sich überwinden lassen. 2018 erschien bei Haymon ihr Debütroman „Die Unversehrten“, 2020 folgte „Die zitternde Welt“. http://www.tanjapaar.at

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