Was wäre gewesen,wenn…? Norbert Krölls Wer wir wären

GASTREZENSION Melanie Deutsch, 24. Juli 2020

Melanie Deutsch ist Germanistin, Theaterwissenschaftlerin und Trainerin für Deutsch als Fremdsprache.

Nahezu jeder von uns war schon einmal in einer Situation, in der er sich fragte: Was wäre gewesen, wenn …? Bin ich auf dem richtigen Weg? Bin das wirklich noch ich? Mit diesen Fragen beschäftigt sich auch Albert. Er grübelt viel und bemüht mit Vorliebe den Konjunktiv. Denn vor langer Zeit hat er eine Entscheidung getroffen. Und die lässt ihn nun nicht mehr los.

Albert ist der Protagonist in Norbert Krölls neuem Roman Wer wir wären. Student der Restaurierung, intelligent, belesen, ausgeglichen und sozial verwurzelt. Eines Tages lernt er den Künstler Klaus kennen und eine tiefe Freundschaft entsteht. Albert geht sogar so weit, Klaus seinen besten Freund zu nennen. Dann geschieht das Unfassbare: Klaus erkrankt an Schizophrenie. Albert kann damit nicht umgehen und zieht sich von seinem Freund zurück. Aber weder Hochzeit und Ehe mit Elisabeth noch Sauftouren mit alten Schulfreunden können das entstandene Loch füllen, das tiefer ist, als es zu sein scheint.

Es gibt ein Gefühl, das Albert intensiv beschäftigt und das sich durch den gesamten Roman zieht: Schuld. Albert fühlt sich oft schuldig. An Klaus‘ erstem Krankheitsschub, am Suizidversuch seines Bruders Leander, an einem Autounfall, der Elisabeths Gesicht entstellt. Das ist die Schuld, über die er oft und gern spricht. Man könnte meinen, er tauche gern in diese Schuld ein, um sich vor einem anderen Gefühl zu verstecken, das tiefer darunter liegt. Nämlich einem Gefühl für Klaus, das sich einzugestehen er nicht bereit ist. Albert ist eine ambivalente Hauptfigur. Er verprügelt seinen homophoben Schulfreund, als dieser über Klaus herzieht und ist aber gleichzeitig enttäuscht, als Elisabeth auf seinen Wunsch nach Trennung mit Gleichgültigkeit reagiert. Fast wehleidig sinniert er darüber, dass seine Frau nicht zu einem Kampf bereit ist, den er erst recht nicht führen will. Aber gerade dieses Grübeln, diese intensive Auseinandersetzung mit den möglichen Optionen macht Albert so greifbar. Fast der gesamte Roman wird aus seiner Sicht erzählt, nur wenige Male geht die Perspektive von Klaus oder dessen Schwester Marta aus. Die Wiedergabe seiner detaillierten Beobachtungen reicht sogar bis zu den nebensächlichsten Alltagshandlungen, beispielsweise dem Toilettengang. Sein ständiges Grübeln ist Ausdruck seiner Selbstbezogenheit aber auch seiner Verlorenheit.

Mit Wer wir wären hat Norbert Kröll einen besonderen Roman über einen alltäglichen Menschen geschaffen. Denn der vor sich hin brütende Albert ist dem Leser nicht immer ein gutes Vorbild, aber vielleicht ein sehr passendes Spiegelbild.

Foto: Jorghi Poll/Edition Atelier

Norbert Kröll, 1981 in Villach geboren, lebt und arbeitet in Wien. Studium der Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Mitherausgeber des Literaturmagazins JENNY #2 (De Gruyter). Arbeits- und Reisestipendien des Kunstministeriums, Wiener Literatur Stipendium 2016, Forum Land Literaturpreis 2017, Jubiläumsfonds-Stipendiat der Literar-Mechana 2018, Förderpreis für Literatur des Landes Kärnten 2018, 3. Preis beim Feldkircher Lyrikpreis 2019, Wiener Literatur Stipendium 2020, Theodor-Körner-Preis 2020. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Sein Debütroman »Sanfter Asphalt« erschien 2017 im Löcker Verlag.


Das Buch:

Norbert Kröll: Wer wir wären, Roman, Edition Atelier 2020, 296 Seiten.

www.editionatelier.at

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