Allein zu Haus: Lucia Leidenfrosts Wir verlassenen Kinder

GASTREZENSION Melanie Deutsch, 18. Mai 2020

Melanie Deutsch ist Germanistin, Theaterwissenschaftlerin und Trainerin für Deutsch als Fremdsprache.

Ein namenloses Dorf in einem namenlosen Land zu unbekannter Zeit. Die Erwachsenen sind in die Stadt gezogen und haben ihre Kinder und die Großeltern zurückgelassen. Sie schicken Briefe und Pakete und versprechen, die Kinder nachzuholen. Doch diese müssen bald erkennen, dass das nicht passieren wird. 

In ihrem Debütroman Wir verlassenen Kinder beschreibt die junge oberösterreichische Autorin Lucia Leidenfrost in nüchternen Bildern eine Welt, in der Kinder zwar noch immer Kinder sein und spielen wollen, aber durch die Abwesenheit der Eltern dazu gezwungen werden, Recht und Ordnung selbst in die Hand nehmen. Das Alltagsleben wird organisiert, Aufgaben werden verteilt und deren Einhaltung überwacht. Wer sich nicht an die Regeln hält, wird bestraft. So auch Mila, die Tochter des Bürgermeisters, die kein Teil des unheimlichen Kinderkörpers sein will. Ihre Streifzüge führen sie erst in die Einsamkeit und schließlich in die Konfrontation. Mit der Figur der Mila präsentiert Leidenfrost dem Leser eine individuelle Perspektive. Mila ist nur eines von zwei Kindern, die namentlich genannt werden. Die übrigen sind eine gesichtslose Gruppe, die mit einer Stimme spricht – im Roman sind sie nur „Wir“. Ein Wir, dessen physische Präsenz, das „Wir sind ein Körper geworden“-Sein, immer wieder ins Bedrohliche kippt: „Wir werden es nicht dulden, wenn unsere Regeln missachtet werden.“

Leidenfrosts Prosa ist distanziert. Abwechselnd schickt sie Mila oder die Kinderschar durchs Dorf wie auf ein Schlachtfeld. Dabei wirft sie Fragen auf, die überaus aktuell sind: Wo verläuft die Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei? Wie kann der Einzelne sich gegen eine Gruppe behaupten? Wie viele Generationen kann Wissen überdauern, wenn sich niemand mehr dafür interessiert, es weiterzugeben oder überhaupt zu erhalten? 

Unklar bleibt, warum die Erwachsenen ihr Dorf verlassen haben. Von einem Konflikt ist die Rede, schließlich auch von einem Krieg, plötzlich ist jedoch auch diese Erklärung nicht mehr frei von Zweifeln. Zwischendurch kommen die Erwachsenen zu Wort, erklären und rechtfertigen sich hilflos und den Leser beschleicht das leise Grauen, dass es vielleicht die Furcht vor den Kindern war, die die Erwachsenen in die Flucht geschlagen hat.

Wir verlassenen Kinder ist ein leiser, aber eindringlicher Roman, der dem Leser eine Welt aufzeigt, in der Kinder in die Schrecken einer Abwesenheit geworfen werden. Denn mit den handelnden Erwachsenen verschwinden auch Sicherheit und Infrastruktur. Über die Konsequenzen davon sollte jeder Einzelne nachdenken und die Lektüre dieses Romans kann dabei ein guter Anfang sein.

Foto Copyright: punktachtneun.de

Lucia Leidenfrost
wurde 1990 in Frankenmarkt (Oberösterreich) geboren. Ihr Prosadebüt „Mir ist die Zunge so schwer“ ist im Frühjahr 2017 erschienen. „Wir verlassenen Kinder“ ist ihr erster Roman. 

Das Buch:

Lucia Leidenfrost: Wir verlassenen Kinder, Roman, Kremayr & Scheriau, 192 Seiten, 19,90 Euro

www.kremayr-scheriau.at

Hinterlasse einen Kommentar