Verdichtung: Sabine Scholl über Elfriede Gerstl

REZENSION Barbara E. Seidl 19. Juni 2022

Am 16. Juni 2022 hätte Elfriede Gerst ihren neunzigsten Geburtstag gefeiert. Einer Einladung der Kulturabteilung der Stadt Wien folgend, hat sich Sabine Scholl in einem literarischen Essay mit Gerstls Werk auseinandergesetzt. Anhand das Langgedichts „Kleiderflug oder lost clothes“, erkundet Scholl Gerstls poetische Praktiken und entdeckt im minimalistischen Stil der Autorin einen reichen Fundus an Metaphern und Anspielungen die nicht nur das eigene Leben sondern auch Schreibprozesse rekonstruieren.

Kleider spielten in Elfriede Gerstl Leben eine wichtige Rolle. Während der Kindheit, im Versteck, war das Leben der Dichterin von Verzicht geprägt, nur das Notwendigste konnten ihre Mutter und sie behalten. Diesen Mangel suchte Gerstl wohl, wie Sabine Scholl bemerkt, im späteren Leben durch das Sammeln von Kleidern aufzuarbeiten.

An Kleidern zeigt sich das Vergehen von Zeit, werden Verluste und Vergänglichkeit deutlich.

Sabine Scholl über Elfriede Gerstl

Abschnittsweise tastet Scholl Gerstls Gedicht ab, zeichnet Verknüpfungen von Modetrends, Weiblichkeitskonzepten und der Biografie der Autorin nach. Beleuchtet werden neben Gerstls Auseinandersetzung mit Textilien auch deren Zersetzung sprachlicher Normen. So ortet Scholl in Gerstls kleingeschriebenen, zumeist subjekt- und oft auch verblosen Zeilen einen Spiegel prekärer Lebensumstände, eine notgedrungene Minimierung, die Kunst, aus wenig viel zu machen.

Foto © Weissbooks 2022 Sabine Scholl, 1959 in Oberösterreich geboren, Studium in Wien, lebte u. a. in Aveiro, Chicago, New York, Nagoya, wo sie an Universitäten lehrte. Seit ihrer Rückkehr in den deutschsprachigen Raum unterrichtet sie Literarisches Schreiben in Leipzig, Wien und Berlin. In den letzten Jahren erschienen u. a. folgende Romane : Wir sind die Früchte des Zorns (2014) und O. (2020).

Sabine Scholl, Über Elfriede Gerstl, Mandelbaum Verlag 2022, 96 Seiten, € 12.

Sabine Scholls scharfer Blick lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die zahlreichen beiläufigen Details, die unter der oberen Schicht von Elfriede Gerstls Schreiben durchschimmern. Während andere, männliche Sprachkünstler hochgelobt, ja beinahe verehrt wurden, bedachte die zeitgenössische Kritik Gerstls Schreiben, wie Julia Danielczyk in ihrem Vorwort bemerkt, gerne mit Begriffen wie „hübsch“ und „verspielt“, die Autorin wurde gar als „Randfigur“ oder „Klein-Avantguardistin“ bezeichnet.

Umso wichtiger erscheint vor diesem Hintergrund Sabine Scholls Reflexion über Elfriede Gerstl. Ein augenöffnender und sehr inspirierender Essay, der im besten Fall dazu beitragen kann, der großartigen Schriftstellerin den Platz innerhalb des literarischen Kanons einzuräumen, den sie verdient.

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