„Sicherlich würde es uns allen guttun, innezuhalten und zu überlegen, ob die Pfade, auf denen wir so unüberlegt dahintrampeln, uns selbst und dem Planeten guttun“

In ihrem Debütroman Lektionen in dunkler Materie lässt Ursula Knoll fünf Frauen scheinbar aus dem Nichts ausflippen. Doch bei genauerem Hinsehen, haben sich die Gründe dafür bereits seit längerem angebahnt. Im Interview erzählt die Autorin, welche Anekdoten sie inspiriert haben, spricht über die Vor-und Nachteile des Ausrastens und reflektiert über die Unterschiede des Romanschreibens im Vergleich zu ihrer Arbeit als Dramatikerin.

In Lektionen in dunkler Materie begegnen wir fünf Frauen, die am Limit sind, sich in die Enge gedrängt fühlen und die sich – teils rabiat – zur Wehr setzen. Würde es jeder/m einmal guttun, ein bisschen auszurasten?

Der Roman erzählt von fünf Frauen, die alle in ihrem Leben an einen Punkt kommen, an dem es nicht mehr weitergeht. Das hat bei einigen der Figuren mit den sozioökonomischen Verhältnissen zu tun – Frauen sind in unserer Gesellschaft immer noch schlechter gestellt. Eine alleinerziehende Mutter wehrt sich gegen die Öffnungszeiten des Kindergartens, weil sie mit ihren Arbeitszeiten in der Hotellerie unvereinbar sind. Eine Sachbearbeiterin im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stellt plötzlich nur noch positive Bescheide aus, aus Grant auf ihren überfordernden Arbeitsalltag. Das hat bei anderen Figuren auch damit zu tun, dass sich ihr Alltag nicht mit ihren Überzeugungen deckt. Eine Aktivistin randaliert in einem Supermarkt gegen die ausbeuterischen Produktionsbedingungen des Tomatenanbaus. Eine Astronautin zerstört im Zorn eine KI, die sie psychisch bei einer Weltraummission auf der Internationalen Raumstation unterstützen soll. Ihre Schwester pokert mit Finanzwetten gegen ausbeuterische Unternehmen, um ihnen wirtschaftlich zu schaden. 

Das Ausrasten zieht also Lebensverbesserungen wie auch (ungewollte) Zerstörung nach sich. Es entsteht bei einigen der Figuren aus dem Affekt, bei anderen ist es von langer Hand geplant. Als Akt eines vereinzelten Individuums ist es bei allen Figuren aber begrenzt. Die Frauen sind miteinander verbunden, ihre Lebenswege kreuzen sich auf unterschiedliche Weise. Alles ist mit allem vernetzt, alles passiert gleichzeitig, und trotzdem bleiben sie seltsam isoliert. Deshalb sind auch ihre Eruptionen Ereignisse, die nur eine begrenzte Wirkung entfalten und keine radikalen Veränderungen auslösen können.  

Ich fand es reizvoll, das alles in einem Roman durchzuspielen. Gerade der Episodenroman bietet dafür eine passende Form.

Ursula Knoll, Lektionen in dunkler Materie. Edition Atelier 2022, 248 Seiten, € 22.

Ob das für das Leben auch gilt? 

Nein, da wäre ich sehr vorsichtig. Wir haben in zwei Jahren Pandemie ja eindrücklich erlebt, was wutbürgerliche Hysterie für absonderliche Blüten treibt und wie sie gesellschaftliche Schieflagen, die wir haben, nicht abbaut, sondern verstärkt. Statt uns darum zu kümmern, dass im Pflegebereich bessere Arbeitsbedingungen herrschen, debattieren wir beispielsweise Impfdetails im Kreis. 

Aber sicherlich würde es uns allen guttun, innezuhalten und zu überlegen, ob die Pfade, auf denen wir so unüberlegt dahintrampeln, uns selbst und dem Planeten guttun und an welcher Stelle wir neue Wege einschlagen könnten. Und ja, Wut ist ja eine sehr ermächtigende Emotion, die zum Handeln ermutigt. Deswegen mag ich sie so gern. In Bezug auf die ökologische Krise beispielsweise würde es uns allen nicht schaden, kollektiv organisiert in die Wut zu kommen und die Angststarre, Lähmung oder Ignoranz aufzubrechen, unsere bequeme, schädigende Lebensweise umzukrempeln und eine ganz neue Welt zu wagen.

Weiblicher Frust ist etwas, was lange Zeit nicht so offen dargestellt wurde. Fast hatte es den Anschein, als wären Frauen durch nichts aus der Ruhe zu bringen, während Männer wüten und toben durften. War das mit ein Grund dafür, warum Sie Ihre Protagonistinnen so richtig die Beherrschung verlieren lassen?

Ja, das war einer der Gründe. Natürlich ist das sehr reizvoll, die sonst so trauigen, passiven oder maximal hysterischen Frauen einmal toben zu lassen und zuzuhören, was dabei herauskommt. 

Vor allem, wenn es ambivalent bleibt, wie das Toben einzuordnen ist. Also ob die Gründe für das Ausrasten nachvollziehbar sind oder vage bleiben, die Figur eigenen ethischen Forderungen entspricht oder etwas Abgründiges mitbringt, Leser*innen sympathisch ist oder nicht, ihr Ausbrechen Konsequenzen mit sich bringt, die anderen schaden, nutzen oder die einfach verhallen. Dafür bietet sich die Romanform an, weil sie Grauzonen, Mehrdeutigkeiten und Brüche zulässt.

Ursula Knoll, 1981 in Wien geboren. Studium der Germanistik, Judaistik und Romanistik in Wien, Bishkek, Washington DC und Prag. Ausbildung zur Dramatikerin am Burgtheater Wien und bei den wiener wortstaetten. Literaturwissenschaftliche Promotion über NS-Täter*innenschaft. 2009 Thomas-Bernhard-Stipendium für Dramatisches Schreiben. 2010 Raul-Hilberg-PhD-Stipendium. 2021 Stipendiatin beim kollaborativen Dramatiker*innen-Programm Tour des Textes.

In einem anderen Interview haben Sie erzählt, dass Sie gerne Zeitung lesen und dabei skurrile Geschichten sammeln. Sind Zeitungsmeldungen etwas, was Sie zum Schreiben inspiriert?

Den Roman habe ich im ersten Lockdown begonnen. Nachdem ich, wie viele andere auch, in meinem hektischen Treiben ausgebremst worden war, fühlte es sich wie eine Flucht aus dem ungewohnten Pandemiealltag an, mir einfach irgendwelche Geschichten auszudenken. Weil über mich selbst und meine Welt wollte ich nicht schreiben. Also stöberte ich in meinem Archiv an skurrilen Zeitungsmeldungen. Als erstes fiel mir gleich die Geschichte einer amerikanischen Astronautin in die Hände, die von der ISS aus ihre Ex-Freundin stalkte und dafür nach ihrer Mission von einem US-amerikanischen Gericht angeklagt worden ist. Bingo! In der Isolation der gerade eben begonnenen Pandemie habe ich mich also im Kopf gleich auf die Raumstation begeben und mich gefragt, was diese arme Frau wohl dazu gebracht haben könnte, vierhundert Kilometer oberhalb der Erde in einem kleinen Plastikmodul eingesperrt ihre Ex-Freundin zu belästigen. Und dann ging es los. In meiner Jugend hat mich das Lesen aus meiner kleinen, beengten Welt gerettet. Ich hab mich als Kind und Jugendliche überallhin weggelesen. Mit dem Schreiben verhält es sich also genauso. Was für eine schöne Entdeckung. 

Bisher haben Sie vor allem als Dramatikerin gearbeitet. Wo sehen Sie die größten Unterschiede im Schreibprozess, etwa im Hinblick auf die Konstruktion der Handlung oder den Figurenaufbau?

Zu Beginn des Schreibens dachte ich mir: ein Roman macht aber schon viel Arbeit. Ganze Sätze ausformulieren zu müssen, Beschreibungen auszudeklinieren und nicht einfach ein paar Regieanweisungen hinzupinseln. In den Theaterstücken ist der Dialog ja nur die Spitze des Eisbergs, das meiste passiert im Weißraum der Seite. Das, was eben nicht ausgesprochen, hingeschrieben wird. Alles kulminiert in einer Formulierung, im Ton, in dem etwas gesagt oder nicht gesagt wird. Im Schnitt. In der Pause. Ein Theaterstück ist für mich ein Text zum Hören, nicht zum Lesen. Es ist wichtig, wie etwas klingt.

Die Entwicklung von Figuren und Plots war mir da schon eher vertrauter. Die entwerfe ich am liebsten beim Schwimmen oder beim Geschirrspüler-Einräumen. Da brüte ich immer, wer jetzt was macht, wen treffen könnte, wie sein könnte. 

Was die Prosa leichter ermöglicht, sind Sprünge in Raum und Zeit. Rückblenden, Vorgriffe, Hintergrundgeschichten, Herleitungen. Wir springen von einem Kindergarten in eine Raumstation oder vom Jetzt in die Kindheit. Einfach so. Und natürlich das Spiel mit Perspektiven. Wer sieht und wer erzählt? Wie zuverlässig ist das?  Ein Roman ist da zum Lesen. Ich kann Gedanken über Seiten ziehen, in einem Lesefluss. Ich muss sie nicht in ein Bild synthetisieren, wie in einer Theaterszene. Sie können sogar von Episode zu Episode wandern. Es gibt viel mehr Zeit.

Ist bereits ein weiteres Romanprojekt geplant?

Ja. Ich brüte schon am nächsten Projekt. Der Roman hat mir großen Spaß gemacht, das will ich weitermachen. Da das viel Sitzfleisch erfordert, nutze ich die Pausen für ein neues Stück mit meiner Co-Autorin Barbara Kadletz. Eine Komödie! Damit nicht alles so eine epische Länge und einen Ernst bekommt. 

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