GASTREZENSION von Andreas Tiefenbacher
zuerst erschienen am 28. 1. 2022 auf https://www.buecherschau.at
Will Rosa als junges Mädchen noch Lehrerin werden, folgt sie später dem Wunsch des Vaters und wird Journalistin. Auch sonst orientiert sie sich meistens an seinen Vorstellungen, wird doch das kleinste Zuwiderhandeln von ihm mit Ignoranz bestraft. Seine Unversöhnlichkeit kann nur mit großen Gesten getilgt werden und belastet Rosa. Dennoch ist sie stolz darauf, sich mit ihrem schwierigen Vater gut zu verstehen.
Auch ihre Arbeit bei der Zeitung findet sie „großartig und erfüllend“. Dienstreisen weicht sie allerdings aus, weil sie es hasst, in einer fremden Stadt allein zu sein. Dafür übernimmt sie in der Redaktion die undankbareren Aufgaben und erledigt das Unspektakuläre, agiert dabei aber äußerst fleißig. Und doch wird Rosa nicht als „wunderbare, unentbehrliche, große Journalistin“ gesehen, sondern als „unauffällige, unscheinbare, vielleicht unterschätzte, aber eben doch leicht entbehrliche Kraft“.
Als solche wird sie 39-jährig mit der Kündigung konfrontiert, die ihr zwar „das gesamte Ausmaß ihres Versagens“ verdeutlicht, andererseits aber die längst fällige Befreiung von einem Zwang beschert. Schließlich hat ihr der Beruf schon länger keine Freude mehr gemacht. Deshalb sucht sie sich auch nicht rasch neue Arbeit bei einem anderen Medium, um das gewohnte Leben weiterzuführen, sondern unternimmt eine „Selbstfindungsreise“ nach Griechenland. Dort (in der titelgebenden Stadt K.) will sie sich ein paar Wochen mit sich selbst beschäftigen. Die Eltern erfahren davon einen Tag vor der Abreise beiläufig am Telefon und sind natürlich entsetzt, weil sie quasi so leichtfertig ihre Zukunft aufs Spiel zu setzen bereit ist. Und Gerhard, ihr wichtigster Mensch, mit dem sie seit zwölf Jahren eine Beziehung hat, nimmt ihre Entscheidung kommentarlos hin, was sie glauben lässt, davon für sich das Recht ableiten zu können, in K. „zu tun, was immer sie will“.
Rosa wohnt im Hotel, genießt den Sonnenaufgang und das stille Meer und denkt daran, „Zwischenbilanz“ zu ziehen, um herauszufinden, wie sie die zweite Hälfte ihres Lebens gestalten soll. Bislang hat sie eher vor sich „hin gelebt, ständig im Stress, ständig irgendeinem Druck ausgesetzt“, ohne daran zu denken, ob sie mit diesem Leben auch zufrieden ist. Weit ab vom gewohnten Umfeld wird ihr nun klar, dass der Vater seine Macht hier nicht ausspielen, sie weder kränken noch strafen noch Druck auf sie ausüben kann; sie aber gleichzeitig auch einen neuen Ansatz benötigt, um das „Gefühl des Nicht-mehr-weiter-Wissens“, das begonnen hat, „alles in ihr zu erdrücken“, wieder los zu werden. Dass Gerhard kein Wort darüber verliert, dass sie alleine nach K. fährt, bringt sie ins Grübeln. Denn ein Mensch, der sie wirklich liebt, müsste doch irgendwie imstande sein, das, was in ihr vorgeht, „zu erspüren“. Das führt sie zur Annahme, dass ihre Liebe zu ihm „von Anfang an am untersten Ende des Liebesbandes“ gelegen ist, sodass die Vorstellung, in einigen Wochen wieder nach Hause zu fahren und „einfach so weiterzumachen wie bisher“, sie beunruhigt. Rosa ist nämlich das erste Mal in ihrem Leben soweit, dass sie „Ich will“ sagen kann.
Genau da lernt sie den chilenischen Architekten Luis kennen, der eigentlich Journalist werden wollte, aber dann (wie Rosa) dem Willen des Vaters gefolgt ist, später vor der Militärdiktatur nach Deutschland fliehen muss und dort eine Frau kennenlernt, die er schließlich heiratet. Nicht nur ist Luis romantisch; Rosa kann mit ihm auch so schön reden, was mit Gerhard überhaupt nicht mehr möglich scheint. Denn er, mit dem sie lebt und der ihr wichtiger geworden ist als jeder andere Mensch, hört ihr kaum noch zu, ja unterbricht sie ständig.
Bei Luis ist das anders. Er löst in Rosa ein großes Gefühl von Geborgenheit und Zufriedenheit aus. Als vernünftige, klar denkende Frau sieht sie daher, dass ihre Beziehung mit Gerhard „nicht mehr weiterführbar, eine Rückkehr in ihr früheres Leben nicht mehr möglich“ ist. Denn so „leicht, als könnte sie schweben“, hat sie sich noch nie gefühlt. Diese schwebende Leichtigkeit ist es auch, die sie ermutigt, alles hinter sich zu lassen: Gerhard, den Vater, ihren Beruf, ihre Angst. Der daraus erwachsende Loslösungs- und Emanzipationsprozess ist einer inneren Wandlung geschuldet: weg von den Wünschen der anderen, hin zu den eigenen Bedürfnissen.
Ihn schildert Judith Gruber-Rizy mit stilistischer Souveränität und poetischer Kraft, ja mit einer sprachlichen Präzision, deren unprätentiöse Schlichtheit im Darstellen von seelischen Stimmungen und Gefühlsregungen an Marlen Haushofer denken lässt. Allerdings gerät die Protagonistin in Gruber-Rizys Roman während ihrer Bemühungen, sich von den belastenden Lebenszwängen zu befreien, auch mitten hinein in eine fein nuancierte Urlaubsromanze, die nicht nur „eine längst verschollen geglaubte Ruhe“, sondern sogar großes Lesekino entstehen lässt.
Judith Gruber-Ritzy, geboren 1952 in Gmunden, aufgewachsen in Oberösterreich.
Zwischen 1971 und 1990 als Journalistin bei verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen hauptsächlich in Wien tätig. Daneben Studium der Germanistik und Theaterwissenschaften in Wien. Dissertation über den oberösterreichischen Schriftsteller Franz Kain.
Seit 1991 literarische Arbeiten. Mehrere Preise und Arbeitsstipendien.
Mitglied der IG Autorinnen und Autoren, der Grazer Autorinnen Autorenversammlung, des Österreichischen Schriftsteller/innenverbandes sowie des Literaturkreises Podium.
Das Buch:
Judith Gruber-Rizy, Die schreckliche Stadt K., Roman. St. Wolfgang: Edition Art Sience 2020. 202 Seiten, € 15,00.