Erinnerungen an einen Bürgerschreck: Michael Horowitz‘ H.C.Artmann

REZENSION Barbara E. Seidl 12. Juni 2021

Heute vor hundert Jahren erblickte Hans Carl Artmann in „Bradnsee“, dem Arbeiterviertel Breitensee im 14. Wiener Gemeindebezirk, das Licht der Welt. Bereits in sehr jungen Jahren entwickelte Artmann ein großes Geschick für Sprache und brachte sich autodidaktisch Englisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch, Dänisch, Schwedisch, später sogar Gälisch und Aramäisch bei. Doch es sollte der Dialekt seiner Kindheit sein, der ihm schließlich zum Durchbruch verhalf: med ana schwoazzn dintn. gedichta r aus bradnsee, sein 1958 erschienener Band mit surrealistischen Dialektgedichten schreibt der Wiener Vorstadt direkt aus dem Mund. Aus dem Überraschungserfolg von damals ist mittlerweile längst ein Klassiker geworden, der Autor selbst gilt heute als einer der schillerndsten Dichter des deutschen Sprachraums.

Zu Ehren des einhundertjährigen Jubiläums von H.C. Artmann wurden heuer auch Michael Horowitz‘ biografische Annäherungen an den Dichter in einer erweiterten Neufassung aufgelegt. Horowitz, den eine langjährige Freundschaft mit dem Künstler verband, zeichnet in lebendigen Bildern Artmann’s bewegtes Leben nach. Gespickt mit Artmann-Zitaten und Anekdoten aus dem Umfeld des Dichters, nimmt er die Leser*innen mit auf eine Zeitreise, die von Artmann’s rebellischen Anfängen in den Nachkriegsjahren über seine ersten großen Erfolge und die anschließende Flucht in ausgedehnte Reisen bis hin zum Lebensabend in der Josefstadt führt.

Artmann’s bewegtes und bewegendes Leben liest sich von wie eine Mischung aus Abenteuergeschichte und Milieustudie. Von der ersten Seite an zieht Horowitz‘ Hommage an eine Zeit, als Literat*innen noch antibürgerliche Revolutionäre waren und regelmäßig für öffentliche Skandale sorgten, die Leser*innen in ihren Bann. So offenbaren sich zwischen den Zeilen, im Schatten der von Horowitz liebevoll zusammengetragenen Anekdoten aus der Blütezeit der österreichischen Avantgarde, auch die Launen des Publikums. Wurden die Werke des jungen Provokateurs Artmann noch als „Schmutz und Schund“ abgetan und mit strafrechtlicher Verfolgung bedroht, überhäufte man den Dichter später geradezu mit Anerkennung und Preisen.

H. C. Artmann ist auch heute noch in aller Munde, doch nicht alle seine Leser*innen kennen die Geschichte des Dichters, der mit einer schwarzen Tinte schrieb. Daran ist der Dichter selbst freilich nicht ganz unschuldig, denn er liebte es, sich als poetische Kunstfigur zu inszenieren und einen alternativen Lebenslauf zu erdichten. All jenen, die hinter die Maske blicken und den Mann im Schatten der Burenwurst kennenlernen wollen, sei Michael Horowitz‘ Biografie wärmstens empfohlen.

Michael Horowitz
H. C. ARTMANN
Bohemien und Bürgerschreck
208 Seiten, Verlag ueberreuter, 2021

Barbara E. Seidl ist freie Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Trainerin für Deutsch und Englisch als Fremdsprache.

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