Vom Essen und anderen Lastern: Barbara Riegers Friss oder stirb

REZENSION, B.E. Seidl, 21. August 2020

Barbara E. Seidl ist freie Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Trainerin für Deutsch und Englisch als Fremdsprache.

Eine große Tafel Schokolade. Die silberne Folie glänzt verführerisch und wartet nur darauf, aufgerissen zu werden. Was nun? Den Folienrand vorsichtig öffnen und dann wieder gut verschließen, nachdem man sich eine Rippe abgebrochen hat? Oder die silberne Hülle brutal zerreißen und gleich die ganze Tafel auf einmal in den Mund stopfen, bis sich der Magen dreht vor Fett, Zucker und Schuldbewusstsein?

Für Anna, die Protagonistin in Barbara Riegers Friss oder stirb, gibt es nur alles oder nichts. Entweder schlingt sie Unmengen an Essen hinunter und steckt sich danach gleich einen Finger in den Rachen um das Essen wieder loszuwerden, oder sie isst erst gar nichts, außer vielleicht ein Stück Obst. Annas Leben dreht sich wie ein Kreisel ums Essen, das, wie sich unschwer erkennen lässt, die große Lücke in Annas Leben füllen soll, die durch einen Mangel an Halt und Liebe entstanden ist.

Sicher, es gibt einige Menschen in Annas Leben, die sie gerne haben. Da ist Annas Mutter, die immer nur „das Beste“ für sie will, was sie allerdings auf schauerlich beklemmende Weise zeigt, indem sie ihrer Tochter unentwegt ihre Unzulänglichkeiten vor Augen hält. Da sind Annas Väter, der biologische, den sie erst spät kennenlernt und der sich als grobe Enttäuschung herausstellt, und der Stiefvater, das Beiwagerl der Mutter. Und dann sind da natürlich auch noch Annas Freundinnen und Liebhaber, Wegbegleiter*innen, die allesamt selbst mehr Unterstützung brauchen als sie anbieten können.

Barbara Riegers Friss oder Stirb erzählt die Geschichte einer Selbstfindung, die auch vor Schattenseiten und extremeren Herausforderungen des Erwachsenwerdens nicht zurückschreckt. Themen wie Bulimie, Drogenmissbrauch und selbstzerstörerischer Sex werden dabei weder vertuscht noch verherrlicht. In kurzen, von Mixed Tapes begleiteten Kapiteln, kämpft die Protagonistin Anna um Eigenverantwortung und Selbstliebe. Eine Lektüre, die authentisch bleibt und trotz der schwer verdaulichen Kost, leicht runtergeht.

Irgendwo zwischen den Jugendbüchern von Christine Nöstlinger und den Romanen Sally Rooneys rockt Friss oder stirb mit eigener markanter Stimme und verschafft dabei all jenen jungen Frauen Gehör, die unter dem Diktat festgefahrener Gesellschaftsbilder leiden, die Äußeres über Inneres stellen.


Barbara Rieger, geboren 1982 in Graz, Autorin und Schreibpädagogin. Lebt mit ihrer Familie im Almtal (Oberösterreich).

Gemeinsam mit Alain Barbero Herausgeberin des multilingualen Literatur- und Fotoblogs cafe.entropy.at.

Ihr zweiter Roman „Friss oder stirb“ erscheint im August 2020 bei Kremayr & Scheriau.


Das Buch:

Barbara Rieger, Friss oder stirb. Roman. Kremayr & Scheriau, 2020. 224 Seiten, 22,00 € .

www. kremayr-scheriau.at

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