„Sprachliche Strukturen beeinflussen unsere Weltsicht“

Foto © Florian Hülmbauer

In ihren Texten erkundet Cornelia Hülmbauer gerne Strukturen und Zwischenräume – zwischen einzelnen Sprachen aber auch innerhalb der Familie. Im Interview teilt sie ihren persönlichen Zugang zur Poesie, spricht über Transpoesie und ihre Erfahrungen mit dem Übersetzen von Lyrik und reflektiert die Rezeption von Lyrikerinnen in der Literaturkritik.

Was bedeutet Lyrik für Sie persönlich? 

Vielleicht einen Kumulationspunkt all dessen, was Sprache kann. Semantik trifft Ästhetik, Konvention trifft Kontingenz, Affirmation trifft Irritation. Verknappung trifft Üppigkeit und Weite, Wort trifft Körper, Schrift trifft Klang. Potenzierungen wie Reibungsverluste inklusive.

Große Lust trifft heiligen Ernst. Ein großer Schwindel und eine große Kraft. Ein ewiges pars pro toto. Mit jedem Wort geht es um alles. Und alles geht – wenn man einen Weg findet, damit durchzukommen. Das ist das eigentlich Spannende: Etwas Zwingendes zu kondensieren aus einem unendlichen Möglichkeitspool. Das Gegenteil von Beliebigkeit.

Größtmögliche Präzision bei größtmöglicher Offenheit. Gerne auch in der Rezeption. Für zumindest so viele Interpretationen wie Leser*innen.

In Ihren Texten legen Sie sprachliche Mikrostrukturen frei indem Sie Sprache zersetzen, bis, wie es in einer Beschreibung Ihrer Arbeit so schön heißt, nur mehr „reine Konzentrate“ übrigbleiben. Gehen wir im Alltag, Ihrer Meinung nach, manchmal vielleicht zu sorglos mit Sprache um?

Ja  und nein.

Ja, zumal aus der Position einer „Mitgemeinten“. Sprachliche Strukturen beeinflussen unsere Weltsicht. Sprache kann und sollte auch der Bewusstseinsbildung dienen. Sprache kann und sollte jedenfalls adäquat auf ihre Nutzer*innen und deren Lebenswelten abgestimmt sein. Allerdings vermag das eben nur so weit zu reichen, wie es ein Ineinandergreifen mit den übergeordneten sozio-politischen Strukturen gibt.

Sprache ist ein Werkzeug. Sprache verändert sich kontinuierlich. Im Alltag dient sie ja in erster Linie einmal der Kommunikation. Dass da zu einem gewissen Grad einfach Pragmatismus angesagt ist, dass es immer wieder zu Unschärfen und Missverständnissen kommt, ist nur natürlich. Also jein. Eine gewisse Ökonomie im Sprachgebrauch bedeutet nicht gleich den Verfall unserer gesamten Kultur. Genauso wenig wie ich Sprachwandel als etwas Gefährliches ansehe. Als gelernte Linguistin betrachte ich solche Phänomene eher neutral bis interessiert.

Dieser Tage ist ja auch oft von einer sprachlichen bzw. kommunikativen Verrohung die Rede. Das würde ich allerdings nicht unter Sorglosigkeit einordnen. Wer Sprache als Waffe einsetzt, für Beleidigung, Manipulation oder Agitation, hat ja sehr wohl etwas von den Mechanismen ihres Gebrauchs verstanden (und sich dementsprechend zu verantworten).

In Ihrer Arbeit beschäftigen sie sich unter anderem mit Transpoesie und haben sich auch in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit sprachlicher Diversifikation auseinandergesetzt. Ist Lyrik eine Gattung, die sich besonders gut eignet, um sprachliche Grenzen zu überschreiben? 

Vielleicht nicht unbedingt zu überschreiben. Aber jedenfalls abzuschreiten und zu befragen. Etablierte Kategorisierungen (wie Deutsch, Englisch, Türkisch, etc.) sind ja nicht einfach wegzuwischen und werden wohl ein Stück weit immer mitgedacht. Code-switching etwa, also das Wechseln zwischen Sprachen innerhalb eines Textes, wird nach wie vor als etwas Markiertes gelesen. Andererseits stellt sich schon die Frage, wie sehr vermeintliche Trennlinien für die/den Einzelne/n überhaupt als solche Gültigkeit haben. Zu einem gewissen Grad sind wir ja alle mehrsprachig, und unsere Gehirne lassen sich theoretisch gezogene Grenzen nur bedingt aufzwingen. Sprachliche Repertoires sind etwas sehr Individuelles. Und ja, in der Lyrik lassen sie sich wohl auf besonders freie, intuitive Weise ausreizen.

Damit meine ich gar nicht nur das vordergründige Mischen unterschiedlicher Sprachen, sondern auch hintergründigere Phänomene wie das Spiel mit teilweisen Überlappungen (siehe „falsche Freunde“) oder wortwörtlichen Übertragungen, etwa von idiomatischen Wendungen, und so weiter. Ebenso wenig wie sich diese Techniken auf Sprache A vs. Sprache B beschränken müssen. Die Entscheidung darüber, was als eine eigenständige Sprache gilt, wird ja ohnehin zu einem Gutteil aus politischen und weniger aus linguistischen Erwägungen gefällt. Der Grad der Unterschiedlichkeiten spielt dabei gar keine so große Rolle. In der Lyrik hingegen lässt sich hervorragend mit diesen Abstufungen von Ähnlichkeit und Differenz arbeiten. In meinem Schreiben spielen etwa die Reibungspunkte zwischen Hochsprache und Dialekt bzw. zwischen unterschiedlichen Varianten des Deutschen eine wichtige Rolle. Dass beispielsweise ein Wort wie Mensch in der Hochsprache neutral ein Individuum meint, das grammatikalisch männlich ist (der Mensch), während es im Dialekt auch abwertend auf ein Mädchen verweisen kann, das grammatikalisch sächlich definiert ist (das Mensch), kann man vielleicht bereit als Verweis auf gesellschaftliche Strukturen lesen. So etwas lässt sich im Rahmen eines Gedichts auf besondere Weise nachspüren.

Neben Ihren eigenen Texten übersetzen Sie auch Arbeiten von Kolleg*innen aus dem Englischen. Was sind Ihrer Erfahrung nach die größten Herausforderungen beim Übertragen von lyrischen Texten in eine andere Sprache?

Ich denke, man muss sich ganz allgemein, aber noch einmal speziell in der Arbeit mit Lyrik bewusst sein, dass es nicht die eine richtige Übersetzung eines Textes gibt – weder im Sinn von einzig-, noch im Sinn von letztgültig. Das ist Reiz und Frustration gleichermaßen. Ohnehin habe ich das Gefühl, dass man im Übersetzungsprozess stets gegen die eigentliche Unübersetzbarkeit von Lyrik angeht, und am Ende immer wieder – wenn auch lustvoll – an ebendieser scheitert. Es ist ein Ringen um die gerechteste Annäherung, den besten  Kompromiss. 

Im Sinne dessen habe ich bisher meist im Duo übersetzt. Zum einen sehen zwei Augenpaare mehr, kommen noch und noch mehr bedenkenswerte Facetten eines Ausgangstextes zum Vorschein. Die weiten Bewegungen, wo sich also Original und Übersetzung sprachlich klar unterscheiden, sind dabei weniger Herausforderung als die Bearbeitung von vermeintlich Nahem, das sich/es bei genauerer Betrachtung dann letztendlich doch nicht ganz trifft. Hier gilt es – gegenläufig zum spielerischen Zugang, den man, wie vorhin skizziert, im eigenen Schreiben hat – besonders achtsam zu sein.

Vor allem aber wollen beim Übersetzen Entscheidungen getroffen werden, teilweise knallharte, weil es oft nicht möglich ist, Inhaltliches und Formales im ursprünglichen Zusammenspiel des Originaltextes zu übertragen. Angesichts dieser Verantwortung ist es gut, wenn es einen Gesprächs- bzw. Verhandlungspartner gibt, um gemeinsam abwägen zu können und keine der Entscheidungen allzu leichtfertig zu treffen.

In Ihren Texten greifen Sie gerne sozial relevante Themen auf, unter anderem sprechen Sie auch patriarchale Machtstrukturen an. Wie nehmen Sie diese Strukturen in Bezug auf die Rezeption von Lyrikerinnen wahr? 

Diese Frage finde ich insofern spannend, als ich bei näherer Betrachtung ihrer Formulierung nicht sicher bin, ob damit die Rezeption der von Lyrikerinnen verfassten Texte oder die Rezeption der Lyrikerinnenpersonen gemeint ist. Allein das ist schon bezeichnend, weil ich mich traue zu behaupten, dass sich bei den männlichen Kollegen die Rezeption mit einer größeren Selbstverständlichkeit vorwiegend auf deren Texte konzentriert. Das allerdings betrifft ja sämtliche Gattungen und eine Unzahl von Kontexten.

Dass sich vielleicht bei einem meiner Gedichte, das online publiziert wurde, ein alter weißer Mann eher berufen fühlt, in einem Kommentar einen vermeintlichen Grammatikfehler zu reklamieren als bei einem Text eines männlichen Kollegen, oder dass jener männliche Kollege eher nicht von einem alten weißen Germanistikprofessor bei einem Poesiefestival gefragt würde, warum er auf seinem im Programmheft abgedruckten Autorenporträt so traurig dreinschaut, darüber kann ich nur spekulieren.

Vielleicht ist es in dieser Hinsicht sogar ein Vorteil (wenn auch mit bitterem Beigeschmack), ein literarisches Nischendasein zu führen, das weder von der breiteren Öffentlichkeit noch vom Feuilleton besonders viel Beachtung erfährt, und wo auch die Position der Kritik nicht selten von Kolleg*innen eingenommen wird. Hier kann man jedenfalls beobachten, dass ganz grundsätzlich mit einer großen Ernsthaftigkeit an Texte herangegangen wird, während das Drumherum eine untergeordnete Rolle spielt. Das schätze ich sehr – als Gemeinte und Meinende.


Cornelia Hülmbauer, geboren 1982 in Amstetten, ist Autorin von Lyrik, Kurzprosa und Hörstücken. Studium der Anglistik und Kunstgeschichte in Wien und Malta sowie der Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Promotion und wissenschaftliche Tätigkeit in angewandter Linguistik. 2018 Theodor Körner Preis für Literatur. Im selben Jahr erschien ihr Lyrikdebüt MAU OEH D bei Sukultur, Berlin, 2020 CYCLUS V in niederländischer Übersetzung bei Zegwerk, Gent. 2020 wurden ihre Texte in der Literaturpassage des Museumsquartier Wien ausgestellt.

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