REZENSION Barbara E. Seidl 7. Mai 2021
Bei Lyrik scheiden sich die Geister. Während die einen gerne mal im Fluss poetischer Sprachkunst untertauchen, sehen sich andere in unliebsame Schulstunden zurückversetzt, in denen sie von gnadenlosen Deutschlehrern durch eine Welt der Jamben, Trochäen und Hexametern gejagt wurden. Tatsächlich wird im trocken vermittelten Deutschunterricht oft bereits ein erster Grundstein gelegt für eine lebenslange Aversion gegen Lyrik. Dabei ist Poesie so viel mehr als ein unnatürliches Silbengeflecht: Lyrik ist die Kunst, die Welt in und um uns in wenige, ausgewählte Worte zu fassen.
Mit seinem aktuellen Band zu brechen bleibt die see, kehrt Michael Stavarič zu seinen Wurzeln als Lyriker zurück und setzt der Lyrik ein poetisches Denkmal. zu brechen bleibt die see ist ein Plädoyer, das sich eines Kunstgriffs bedient indem es die Sinnhaftigkeit von Poesie negiert, um ihr gleichzeitig eine Liebeserklärung zu machen. In siebenundsiebzig Punkten, die schließlich von zwölf Autor*innen weitergesponnen werden, beschreibt Stavarič, was Poesie alles nicht ist und zeigt dabei auf, wie viel mehr sie in Wirklichkeit sein kann.
ja sie generiert sogar die allerwenigsten
Likes im World Wide Web
was schon wieder eine Klasse für sich sein müsste
zu brechen bleibt die see, Michael Stavarič
Seit einigen Jahren wird nun schon von einem Comeback der Lyrik gesprochen, dennoch fristet die Dichtkunst nach wie vor ein Nischendasein – am Buchmarkt und in den Medien.

Michael Stavarič, zu brechen bleibt die see, Czernin Verlag 2021, €20,00, 144 Seiten.

mit Poesie lässt sich keine Welt verändern
was nur schwer erträglich ist
zu brechen bleibt die see, Michael Stavarič
Wozu brauchen wir eigentlich Gedichte? Sicherlich nicht zur Weltveränderung, wie Michael Stavarič nachdrücklich betont. Und dennoch verändert sich unsere Welt wenn wir Gedichte lesen, vielleicht nicht sofort, doch stückchenweise – denn Lyrik lässt sich nicht verschlingen, überfliegen wie ein Roman.
Mit einem Minimum an Worten generiert Lyrik ein Maximum an Bedeutung. So reicht auch zu brechen bleibt die see ein relativ kleiner Textraum, um neunundachtzig Fenster zu öffnen und den Blick der Leser*innen auf die Wichtigkeiten und Nichtigkeiten des Alltags zu lenken. Es ist faszinierend, was Sprache alles erschaffen kann: Länder und Landschaften, Menschen und Maschinen, Schönes und Schmerzhaftes.
In zu brechen bleibt die see präsentiert uns Michael Stavarič meisterhaft verdichtete Gegenwart, die sich auch noch über die großartigen Beiträge von Isabella Feimer, Katharina J.Ferner, Nancy Hunger, Andrea Grill, Helga Locher, Hanno Millesi, Martin Piekar, Petra Piuk, Helene Proißl, Tanja Rauch, Barbara Rieger und Julia Willmann hinaus weiter ausdehnen lässt.
Eine poetische Liebeserklärung an das kreative Potential der Sprache, die möglicherweise so manche Lyrik-Skeptiker*innen bekehren kann.

Barbara E. Seidl ist freie Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Trainerin für Deutsch und Englisch als Fremdsprache.