Im Bann des Unbegreifbaren: Simon Sailers Die Schrift

REZENSION, Barbara E. Seidl. 31. Oktober 2020

Barbara E. Seidl ist freie Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Trainerin für Deutsch und Englisch als Fremdsprache.

Manchmal bringt uns die Neugierde dazu, Dinge zu tun, von denen wir bereits im Vorhinein ahnen, dass sie nur Ärger bringen. Noch schlimmer wird es allerdings, wenn die Neugierde in eine Besessenheit ausartet, die uns jeglicher Urteilskraft beraubt und den Blick vom Wesentliche ablenkt.

Auch Leo Buri, der Protagonist von Simon Sailers Erzählung Die Schrift ist einer, der seiner eigenen Neugierde zum Opfer fällt. Als er eines Tages einen anonymen Zettel auf seinem Schreibtisch findet, verändert sich sein bis dahin eher unspektakuläres Leben. Obwohl er kein gutes Gefühl dabei hat, macht er sich nach der Arbeit auf den Weg zum Wiener Donaukanal, wo ihm jemand eine geheimnisvolle alte Schrift übergeben will. Was mit Neugierde beginnt wird bald zur Besessenheit. Die Schrift lässt Leo Buri nicht mehr los. Selbst als die Schrift sein Leben zu zerstören beginnt, kann sich Leo nicht von ihr trennen, zu sehr ist er darauf versessen, sie zu entschlüsseln.

Simon Seiler beschreibt eine Faszination die vom Unbegreifbaren ausgeht. Im Stil von Edgar Allan Poe präsentiert der Autor die Schrift als eine mysteriöse Kraft, die den Protagonisten in den Abgrund zieht. Leo Buris Versuch, die Schrift zu verstehen wird zur wahnhaften Besessenheit bis die rätselhaften Symbole alles in Leos Leben auflösen, sogar ihn selbst. Nur die Schrift selbst ist scheinbar unzerstörbar.

Ergänzt durch Illustrationen von Jorghi Poll ist Die Schrift eine moderne Schauergeschichte, die viel Spielraum für Interpretation lässt. Durch den geheimnisvollen Ich-Erzähler, der seine eigenen Quellen in Frage stellt, bekommt Die Schrift den Touch einer Urbanen Legende.

Die Schrift ist eine klassisch aufgebaute Erzählung, die das eigenen Medium auf kreative Weise hinterfragt. Gibt es sie tatsächlich, die eine wahre Bedeutung von Zeichen oder nur eine richtige Lebensart von Texten? Simon Sailers Erzählung ist die ideale Lektüre um Leseratten an grauen Herbsttagen in ihren Bann zu ziehen.

Foto: Sarah Kanawin

Simon Sailer wurde 1984 in Wien geboren, wo er nach Aufenthalten in Berlin, Prag und Paris wieder lebt. Er studierte Philosophie in Wien und Paris sowie Art and Science an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Seit 2017 literarische Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. 2019 erschien sein Debütroman »Menschenfisch«.Web: http://www.simonsailer.net/


Das Buch:

Simon Sailer, Die Schrift, mit vierfarbigen Illustrationen von Jorghi Poll. Edition Atelier 2020, 120 Seiten, 18 Euro.

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