Litrobona geht auf Reisen I

Sahar Mandûrs Ein Mädchen namens Wien. Ein Frauenleben

REZENSION Katharina Peham, 10. August 2022

Wien, ein Mädchen, deren Geburt im libanesischen Beirut von Bürgerkrieg begleitet wird und gleichzeitig mit ihrem Geschlecht die Hoffnung des Vaters auf einen Stammhalter begräbt, sucht ihren Platz als Mädchen, später als Frau in einer Gesellschaft, die sich zwischen Tradition und Moderne nicht entscheiden kann und will. Vom Vater mit dem ungewöhnlichen Vornamen Wien versehen worden, wächst sie mit dem dringenden Wunsch auf, ihr Leben so leben zu können, wie sie es für richtig hält – ein Leben, das weder Denkverbote und Tabus kennt. Wien probiert alles aus und findet immer Gründe dafür, Neues und Verpöntes zu tun. Sie studiert Jura, dann Philosophie, bricht beide Studien ab und gerät in eine arrangierte Ehe mit einem Mann, der sich aufgrund seiner Zeugungsunfähigkeit suizidiert. In den Fängen seiner Familie angekommen, versucht sie sich von deren kleinkarierten und konservativen Denken loszusagen und wird Moderatorin beim Fernsehen, ein Beruf, der in der libanesischen Gesellschaft mit dem Stigma einer dümmlichen Person versehen ist. Ihr erfolgreicher Bruder Achmad dient als Stütze, bisweilen zeigt er sich als einziger amüsiert über Wiens Exzentrik, die beispielsweise in Erscheinung tritt, wenn sie versucht, einen neuen Financier für sich an der Universität für sich zu gewinnen. Schon bald gerät sie an eine Gruppe frommer Frauen, bei denen sie sich zunächst angekommen fühlt. Wien verlässt danach aber fluchtartig das Land, weil sie sich deren Moral und dem Zitieren des Korans abgestoßen fühlt. Als Frau im mittleren Alter stürzt sie nun in Frankreich von einem Extrem ins nächste, sexuelle Abenteuer inklusive.

Sahar Mandûr, Ein Mädchen namens Wien
Aus dem Arabischen übersetzt von Hartmut Fähndrich, Hardcover, 96 Seiten, Illustrationen von Dominique Rossi, € 20,-

Sahar Mandûr, geboren 1977. Studium der Psychologie in Beirut, der Journalistik in London, wo sie 2015 einen Masterabschluss in Media Studies erwarb. Arbeitete von 1998 bis 2017 bei der libanesischen Tageszeitung al-Safîr (Der Botschafter) mit Schwerpunkten auf der rechtlichen und gesellschaftlichen Situation von Frauen, sozialen Bewegungen und kultureller Produktion in Libanon, Ägypten und Palästina. Heute ist Sahar Mandûr wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Amnesty International für den Libanon.

Die Autorin Sahar Mandûr, Jahrgang 1977, Journalistin mit dem Schwerpunkt auf der rechtlichen und sozialen Situation von Frauen im Libanon, Ägypten und Palästina, hat mit Wien eine kontroversielle Figur geschaffen, die das Zentrum ihres Arbeitsbereiches literarisch aufgreift:

„Ich schlief, ich aß, und ich ging abends aus, tanzen. Ich wollte die Zeit nutzen, um eine Alternative zu diesem Durchschnittsleben zu finden, das ich bisher geführt hatte.
Ich wollte eine Nicht-Durchschnittsfrau sein. Doch unter allem, was die Gesellschaft so anbot, fand ich keinen Pfad, den ich hätte beschreiten können.“


Gleichsam schlägt Mandûr nachdenkliche Töne an, wenn es um die Ausgestaltung von Beziehungen geht. Sehr nah an der libanesischen Frau können Leser:innen den Lebensweg mitverfolgen, was allem voran der Ich-Perspektive des Buches geschuldet ist. Wiens Schmerz, ob der fehlendenden Dazugehörigkeit in der Welt und der Suche nach dem Ankommen, liest sich immer wieder mal zwischen den Zeilen:


Genau genommen unterhielten sie sich gar nicht, sondern trugen einander lediglich
Statements vor. Darüber dachte sie nach, während sie miteinander schliefen.

„Ein Mädchen namens Wien“ zeichnet sich vor allem durch eine absurd ironische mitunter spöttische Sprache aus, und stoppt auch nicht, wenn es selbstironisch wird:


Ich war eine lustige Witwe. Da man mich zwang vierzig Trauertage in der Wohnung
auszuharren, ging ich halt bei Nacht aus und kehrte im Morgengrauen zurück.


Die saloppe, kecke Sprache entspricht laut dem Verlag der Tonalität gegenwärtiger, junger Autor:innen aus dem arabischen Raum. Der Übersetzer Hartmut Fähndrich zeigt sich verantwortlich für die Übertragung der Langerzählung ins Deutsche. Im letzten Abschnitt trennt sich der Text von den Leser:innen, wechselt er doch in die Erzählperspektive und lässt den Ausgang des Lebens von Wien offen. Das Buch „Ein Mädchen namens Wien“ ist eine turbulente Reise zwischen Kopftuch, Koran, Konventionen genauso wie durch Karriere, Kinderlosigkeit und kulturelle Unterschiede. Zwischen Beirut und Paris beschreibt Mandûr liebevoll, lustbetont und lustig ein unkonventionelles Frauenleben, das für mehr Toleranz diverser Lebensentwürfe einsteht.

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