„Die österreichische Literatur ist ein Teil der deutschsprachigen Literatur.“ So steht es gleich zu Beginn des Wikipedia-Eintrags zu österreichischer Literatur. Doch ist das tatsächlich so? Wie verhält es sich mit Autor:innen, die in Österreich geboren sind, bzw. hier leben, und ihre Werke (teils) in anderen Sprachen verfassen? Der Künstler, Literat und ehemalige Deutschlehrer Gerald Kurdoğlu Nitsche hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit dem von ihm gegründeten EYE-Verlag den Sprachen der „Wenigerheiten“ eine Stimme zu geben.
Herr Nitsche, in Ihrer Kindheit mussten Sie nach dem frühen Tod Ihrer Eltern mehrmals umziehen, welchen Ort verbinden Sie am ehesten mit dem Begriff Heimat?
Ich bin in Wien geboren und als Elfjähriger wurde ich als sechstes und jüngstes Kind in eine Familie aufgenommen. Das war in Landeck in Tirol und dort habe ich auch eine Heimat gefunden. Da habe ich heute auch mein Haus, mein Atelier und meine Familie.
Auch Holland spielt in meinem Leben eine Rolle, dorthin bin ich als Zehnjähriger zur Adoption geschickt worden. Das hat leider nicht geklappt und so wurde ich wieder zurückgeschickt – in dem Fall nach St. Johann in Tirol, was mir auch eine schöne Erinnerung ist.
Dann ist noch Istanbul sehr wichtig für mich. Dort war ich einerseits acht Jahre lang als Lehrer tätig und andererseits auch immer wieder gern als Urlauber. Auch dort habe ich Heimat gefunden.
Mit dem von Ihnen gegründeten Verlag EYE (Emirgan Yayinlari Editions) widmen Sie sich der Literatur und speziell der Lyrik der „Wenigerheiten“ – wie kam es dazu?
Ich habe mich intensiv mit der Literatur von Wenigerheiten – dieses Wort ist eine Prägung von Ceija Stojka – auseinandergesetzt und selbst auch einiges an Sprachen erlernt.
Auch die Karrner, zum Beispiel, interessieren mich sehr. Dort, wo unser Grundstück, unser Haus steht, über den Bach, heißt es Karrner Weidenweg, denn da konnten die Karrner, also die Fahrenden, lagern.[a]
Also der Verlag ist dann aufgrund Ihres Interesses an der Kultur der „Wenigerheiten“ entstanden?
Ja genau, aber auch an der Kultur der Migranten, weil das sind ja auch „Wenigerheiten“. Ein Buch von mir heißt Österreichische Lyrik– und kein Wort Deutsch (Haymon, 1990) und dort sind eben die Migranten- und Minoritätssprachen vertreten. Ansonsten habe ich auch ein Buch, das heißt Steine am Weg (EYE, 2017), und da habe ich Texte der Travelers, der Fahrenden in Irland, der Sami in Nordskandinavien, der Roma und Sinti und auch der Jenischen vorgestellt. Das Buch ist vorwiegend eine Gedichtesammlung, beinhaltet aber auch historische Texte. Insgesamt waren zweiundfünfzig Autorinnen und Autoren beteiligt.
Mit dem Verlag ist es mir um Besonderheiten gegangen, die sich mit Minoritäten ergeben. Natürlich wurde ich auch vom Ehrgeiz angetrieben, etwas Besonderes machen zu können. Dabei habe ich mich aber nie am Buchmarkt orientiert. Kunst und Literatur sind meine Lebensmitte und nicht mein Lebensmittel.
Neben der Literatur von „Wenigerheiten“ beschäftigen Sie sich auch intensiv mit Dialekt…
Ja, in meinem Buch Miar Ouberländr habe ich aus dem Tiroler Oberland – das ist von St. Anton bis Kematen – siebzehn Sammlungen erstellt, die auch geographisch zugeordnet werden. Man kann nicht einfach vom Tiroler Oberland eine 100-Wörter-Sammlung machen.
Dabei ist es mir auch darum gegangen, die Eigenständigkeit in der Sprache festzuhalten, wobei das allerdings nicht gelingt. Es kann nicht festgehalten werden, man kann das nur kommentieren. Es gehen auch viele Wörter verloren bzw. werden durch Anglizismen ersetzt. Das verliert sich von Generation zu Generation und wird nicht mehr so gepflegt – I like this überhaupt nicht!
Was braucht es, um das Verständnis von österreichischer Literatur weiter in Richtung Mehrsprachigkeit zu öffnen?
Das kann ich so auch nicht sagen. Ich habe, wie gesagt, mein Buch herausgebracht, Österreichische Lyrik– und kein Wort Deutsch. Früher habe ich auch einmal ein Deutschbuch gemacht mit dem Motto „Miteinander leben, voneinander lernen“. Ich habe mit zweiunddreißig Sprachen gearbeitet, von denen ich nur ungefähr zweieinhalb kann, aber mit viel Hilfe habe ich ein Lesebuch gemacht, das heißt Brücken. Das war ein großes Abenteuer für mich und ich bin sehr stolz darauf, dass es erschienen ist. Leider wurde es schließlich eingestampft. Gerade in Zeiten wie diesen hätte das gut verwendet werden können.
[a]„Im 18. Jahrhundert tauchen in Tiroler Quellen die ersten Hinweise auf Landfahrerfamilien aus den ärmeren Gegenden des Landes auf, die sich durch Hausieren und durch ambulante Handwerkstätigkeit einen kargen Lebensunterhalt verdienen. Sie werden als „Karren- und Grattenzieher“, später verkürzt als „Karrner“ bezeichnet.“ Quelle: Toni S. Pescosta, Die Tiroler Karrner Vom Verschwinden des fahrenden Volkes der Jenischen. Tiroler Wirtschaftsstudien Band 55, UV Wagner 2004.
Gerald Kurdoğlu Nitsche (eigentlich Gerald Nitsche), geboren 18. Juni 1941 in Wien, ist ein österreichischer Maler und Bildhauer, der zugleich als Herausgeber mit dem Schwerpunkt Minderheitenliteratur tätig ist. 1993 änderte Nitsche aus Protest gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus seinen Namen und nahm als zweiten Vornamen Kurdoğlu an. Er ist u.a. Herausgeber von „Österreichische Lyrik – und kein Wort Deutsch“, Anthologie der Wenigerheiten, des ersten interkulturellen Deutsch-Lesebuchs „Brücken“. 1996 gründete er den EYE-Verlag.
Nitsches künstlerische Werke waren seit 1962 in mindestens ca. 250 Ausstellungen zu sehen, darunter zahlreiche Ausstellungen in Italien, Deutschland, Frankreich, Japan, Bosnien, Türkei, der Schweiz und Österreich.
EYE ist ein Verlag, der sich der Literatur, speziell der Lyrik, der Wenigerheiten, der Kleinen Völker Europas, widmet. Jede Anthologie ist zwei- bis dreisprachig, d.h. in der Originalsprache, deutscher Übersetzung und in der Mehrheitssprache des Landes.