Digitales Wettlesen: TddL2020

NACHBERICHT, Barbara E. Seidl, 23. Juni 2020

Der Ingeborg-Bachmann-Preis 2020 ist Geschichte und vieles deutet darauf hin, dass er auch Geschichte machen wird. Aufgrund der Einschränkungen gegen die Verbreitung von CoVid19 war im Vorfeld zunächst unklar gewesen, ob es 2020 überhaupt Tage der deutschsprachigen Literatur geben würde. Letztlich wurde dann jedoch eine Entscheidung zugunsten einer Online-Ausgabe getroffen.

Aus teils liebevoll dekorierten Räumen und Gärten lasen die vierzehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Texte. Schon davor konnten sie sich mit Hilfe selbst gestalteter Videoportraits kreativ entfalten. Es fiel sofort auf, dass dieser Bachmannpreis Spezial viel bunter sein würde als sonst. Nicht nur hatten die Zuseher neben dem Fernsehstudio Einblicke in insgesamt einundzwanzig verschiedene Schauplätze, da auch die Jurymitglieder aus ihren jeweiligen Aufenthaltsorten zugeschaltet waren, sondern es fiel aufgrund der Einzeleinschaltungen auch leichter, sich auf die Lesenden und ihre Texte zu konzentrieren.

Die Jury wiederum musste sich bei aller Diskussionsfreude und Kampfeslust an die Vorgaben der Technik halten und konnte einander nicht so vehement ins Wort fallen, wie dies vielleicht bei einer hitzigen Präsenzdebatte der Fall gewesen wäre. Das Ergebnis was eine mitunter pointiertere Argumentation, der auch die Zusehenden besser folgen konnten.

Der fast schon kitschige Höhepunkt jedoch war schließlich die achtzigjährige Helga Schubert, die mit ihrem Text „Vom Aufstehen“ den Wettbewerb für sich entscheiden konnte. Sichtlich gerührt und dankbar hob sie hervor, dass es ihr ohne das Online-Format vielleicht gar nicht möglich gewesen wäre, am Wettbewerb teilzunehmen, weil sie ihren pflegebedürftigen Mann nicht alleine lassen wollte. Nachdem sie bereits 1980 infolge eines Ausreiseverbots aus der damaligen DDR ihre Teilnahme an den Tagen der deutschsprachigen Literatur absagen hatte müssen, konnte sie nun – ausgerechnet aufgrund einer von vielen Seiten beklagten Ausnahmesituation – endlich mitlesen und den Preis für sich gewinnen.

Alles in allem können wir aus dem Bachmannpreis 2020 wohl so einiges lernen. Wenn auch Präsenzlesungen einen wichtigen Austausch zwischen Autor*innen und Publikum ermöglichen und zum kulturellen Leben dazugehören wie Theateraufführungen oder Konzerte, so haben auch digitale Formate eindeutig ihren Charme. Noch vor einigen Monaten hätten wir vielleicht gedacht, dass Online-Veranstaltungen in erster Linier etwas für Sozialmuffeln wären, die möglichst nicht das Haus verlassen wollen. Doch nun zeigt sich auch, dass Online-Events viel inklusiver sind und viel mehr Menschen eine Teilnahme ermöglichen, selbst wenn ihnen Zeit und Geld für die Anreise fehlen oder sie aus privaten Gründen nicht reisen können.

Gewinner:

Helga Schubert – Ingeborg-Bachmann-Preis

Lisa Krusche – Deutschlandfunk-Preis

Egon Christian Leitner – Kelag-Preis

Laura Freudenthaler – 3sat-Preis

Lydia Haider – Publikumspreis und Stadtschreiberstipendium

Alle Lesungen und Jurydiskussionen zum Nachsehen:

https://bachmannpreis.orf.at/stories/ondemand/

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