Barbara E. Seidl, 09.Juni 2020
Seit Mitte März, als in Folge der Corona-Virus Pandemie nicht nur das soziale, sondern auch das kulturelle Leben in Österreich empfindlich eingeschränkt wurde, erlebt eine etwas in Vergessenheit geratene literarische Ausdrucksform ein unerwartetes Revival: das Tagebuch. In Zeiten von Social Distancing, in denen der persönliche Austausch über alles, was uns angesichts dieser Extremsituation durch den Kopf schwirrt und auf der Zunge brennt, für viele plötzlich auf technische Mittel beschränkt ist, sind schriftliche Aufzeichnungen zu einem Ventil geworden, um so tägliche Ängste, Sorgen und Gedanken mit anderen teilen zu können.
Neben privaten Chroniken, die immer zahlreicher in Form von Fotos, Collagen und Tageszusammenfassungen auf den Timelines sozialer Medien auftauchten, wurde der Tagebuch-Trend auch schnell von Kunstschaffenden, Literatureinrichtungen und Verlagen aufgegriffen und auf vielfältige Art und Weise kreativ umgesetzt. Neben klassischen Chroniken, wie etwa Lukas Meschiks Coronarrativ, ist so mit Marlene Streeruwitz‘ So ist die Welt geworden auch gleich der erste Covid19 Roman entstanden. Mit Aus der Einzelhaft. Virtuelles Tagebuch einer Krise legte der Autor und Regisseur Peter Wagner zusammen mit dem Musiker Rainer Paul ein virtuelles Tagebuch in Form einer multimedialen Collage aus Bild, Musik und Tönen sowie Ausschnitten aus Pressekonferenzen vor.
„Das positive Feedback hat uns alle überrascht.“
Heidi Selbach, Residenzverlag
Auch der Residenzverlag hat sieben Wochen lang Blogeinträge von AutorInnen gesammelt, die zum Teil in der ganzen Welt verstreut leben. Die Idee für die „Chronik eines Ausnahmezustands“ kam von der Verlagsleiterin Claudia Romeder ganz spontan, gleich nach Bekanntwerden der Corona-Maßnahmen. Das positive und starke Feedback habe alle überrascht, meint Pressesprecherin Heidi Selbach. Nicht nur lieferten die AutorInnen begeistert Texte, sondern der Verlag konnte mit dem Blog auch so viele Webseiten-Zugriffe wie noch nie verzeichnen. Darüber hinaus war es, wie Selbach betont, auch für die VerlagsmitarbeiterInnen, die alle im Homeoffice arbeiteten, „eine großartige Möglichkeit mit den AutorInnen in Kontakt und Austausch zu bleiben“.
„Es brannte ihnen scheinbar unter den Nägeln, sich literarisch mit der ‚Corona-Zeit‘ und dem, was das für künstlerisch schaffende Menschen bedeutet, auseinanderzusetzen.“
Anna Rottensteiner, Literaturhaus am Inn
Die Idee zu „Journale aus diesen Tagen“ des Literaturhaus am Inn ist ebenfalls relativ schnell entstanden, um SchriftstellerInnen die Gelegenheit zu geben, ihre Gedanken einem größeren Publikum zur Verfügung zu stellen und ihnen darüberhinaus auch eine kleine ökonomische Stütze zu bieten. Anna Rottensteiner, die Leiterin des Literaturhauses, weist jedoch darauf hin, dass die Form des Journals „weiter gefasst ist, als jene des Tagebuchs“, und es einigen AutorInnen ein Anliegen war, „nicht direkt über Corona zu schreiben, sondern fiktionale Elemente heranzuziehen“. Es wurde unter Umständen als Privileg angesehen, eben „nicht die Nachrichten zu verwenden“ (Petra Maria Kraxner in ihrem fiktiven Journal aus Berlin). Robert Prosser etwa reflektiert in seinem Journal, wie es möglich sein kann zu schreiben in einer Zeit des Stillstands und verfasst dann ein Journal aus Beirut. Besonders beeindruckend fand Rottensteiner Isabella Feimers Journal, die anhand von Fotografien ihrer Reisen aus „vergangenen Tagen“ einen Konnex zur Gegenwart herstellt, wohingegen Hans Platzgumer sich für eine Engführung durch psychologische Beobachtung entscheidet.
Für die Leiterin des Literaturhauses am Inn waren vor allem die unterschiedlichen Herangehensweisen sehr spannend sowie die Tatsache, dass alle vier AutorInnen mit Leidenschaft zugesagt haben. „Es brannte ihnen scheinbar,“ wie Anna Rottensteiner meint, „unter den Nägeln, sich literarisch mit der „Corona-Zeit“ und dem, was das für künstlerisch schaffende Menschen bedeutet, auseinanderzusetzen.“
„Zudem galt uns die Möglichkeit, einer weiblichen literarischen Position über einen längeren Zeitraum in einem ephemeren Medium wie dem Internet folgen zu können, als interessante Kombination.“
Julia Brunner, Stifterhaus
Marlene Gölz, ausgezeichnet mit dem Marianne.von.Willemer – Frauen.Literatur.Preis 2017, arbeitet im StifterHaus im Bereich Presse. Ihre „lakonisch-melancholische, aber auch sehr lebensnahe Art und Weise, diese außergewöhnlichen Zeiten zu protokollieren“, erschien, wie ihre Kollegin Julia Brunner erklärt, als „wichtiger literarischer Beitrag zur Lage der Zeit und als willkommenes künstlerisches Angebot für das Publikum des Stifterhauses“. „Zudem galt uns,“ so Brunner weiter, „die Möglichkeit, einer weiblichen literarischen Position über einen längeren Zeitraum in einem ephemeren Medium wie dem Internet folgen zu können, als interessante Kombination.“ Die Betrachtungen von Marlene Gölz haben viele Menschen erheitert und getröstet. Wie ihre Kollegin betont, hat das Stifterhaus viele positive Rückmeldungen erhalten.
Die „Aufzeichnungen aus der Quarantäne“ werden noch bis Ende Juni zweimal wöchentlich (dienstags und donnerstags) auf der Webseite des Stifterhauses veröffentlicht.
„Für ein Fazit ist es vorerst noch zu früh.“
Klaus Kastberger, Literaturhaus Graz
In jedem Fall noch bis Ende Juli geht es mit etwas größeren Abständen auch noch mit den Corona-Tagebüchern des Literaturhaus Graz weiter. Für ein Fazit sei es vorerst, so der Leiter Klaus Kastberger, noch zu früh. Die Beiträge österreichischer Autorinnen und Autoren für die Corona-Tagebücher basieren auf dem Veranstaltungsprogramm, das das Literaturhaus Graz in den vergangenen Wochen bringen wollte und können zusätzlich zu den Auszügen auf der Webseite auch in voller Länge als PDF heruntergeladen werden. Wie es nach Ende Juli mit dem Projekt weitergeht, muss, so Kastberger, noch entschieden werden. Angedacht sind jedenfalls eine Veranstaltung und eventuell ein Buch.
Die kreative Umsetzung von Chroniken, Journalen und Tagebuchformaten, die uns während der letzten Wochen und Monate begleitet haben, macht Lust darauf, auch selbst wieder regelmäßig Tagebuch zu schreiben, um so den Alltag ein wenig bewußter wahrzunehmen, Gedanken zu ordnen, und diese weiterzuentwickeln. In jedem Fall sind die Aufzeichnungen Momentaufnahmen einer Ausnahmesituation, die auch in Zukunft noch wertvolle Zeitdokumente sein werden.