Keine Angst, niemals

Foto © Barbara Rieger: Marlene Gölz und Reinhard Kaiser-Mühlecker im Gespräch

Marlene Gölz über „Brennende Felder“, den neuen, für den österreichischen Buchpreis nominierten Roman von Reinhard Kaiser-Mühlecker.

„Nähe. Mein Gott, wie viel Zeit hatte sie in ihrem Leben damit verbracht, darüber nachzudenken, weshalb sie sie nicht empfinden konnte. Wie fern andere waren. Fern wie Sterne. Aber nicht nur andere. Stand sie vor dem Spiegel, konnte sie oft nicht glauben, dass das wirklich sie sein sollte.“ 

Dieser Frau, die so fern wie Sterne von sich selbst ist, wendet sich Reinhard Kaiser-Mühlecker in seinem neuen Roman „Brennende Felder“ zu und macht sie zur Hauptfigur, aus deren personaler Perspektive erzählt wird: Luisa Fischer, Leser*innen voriger Bücher bekannt als die meist abwesende Schwester von Alexander und Jakob. Von der Kritik wurde „Brennende Felder“ – nach „Fremde Seele, dunkler Wald“ (2016) und „Wilderer“ (2022) – als letzter Teil einer Trilogie rezipiert, wobei jedes Buch für sich gelesen werden kann.

Schauplatz ist die bäuerliche Welt, ein fiktiver Ort in Oberösterreich, wo die Familie Fischer lebt: Rosental. Zu Beginn, im ersten dieser Romane, ist da Robert, der Vater, der Hektar um Hektar verkauft, um über die Runden zu kommen und dubiosen Geschäftsideen nachhängt, die er zuhause kaum kommuniziert; am Rande nur die Mutter, und, wie Klassikern der Weltliteratur entsprungen, die drei Geschwister: Alexander wollte Priester werden, ging dann aber zum Militär. Der wesentlich jüngere Bruder Jakob, Hauptfigur in „Wilderer“, wird den Hof übernehmen. Und dazwischen ist Luisa, die unstete, im Ausland lebende Schwester. „Es hatte ihr“, so heißt es in „Brennende Felder“, „lange Zeit genügt, ein oder zwei oder drei Mal im Jahr, vorbeizuschauen´, wie sie es nannte.“  Nun hat Kaiser-Mühlecker, der selbst in Oberösterreich lebt, wo er eine Landwirtschaft betreibt, Luisa nach Rosental zurückkehren lassen.

Reinhard Kaiser-Mühlecker, Brennende Felder, S.Fischer 2024, 368 Seiten, € 25,70

Wir erfahren, was in „Wilderer“ bereits angedeutet wurde: Luisa ist nicht Roberts leibliches Kind. An ihrem 15. Geburtstag hatte ihr die Mutter eröffnet, sie sei ein „Rauschkind“, „das Produkt einer schnellen Nummer zweier Betrunkener auf einem Maskenball“. Luisa gehöre im Grunde gar nicht hierher, sei kein Teil dieser „verfluchten Familie“. Woraufhin Luisa Robert, dem Stiefvater, den sie in Folge „Bob“ nennt – „weil es verdammt cool klang, nach Amerika“ – ihre Liebe gesteht. Er wendet sich zunächst von ihr ab, steht dann aber zwei Jahrzehnte später vor ihrer Hamburger Wohnungstür. Luisa ist da bereits zweimal geschieden, hat zwei Kinder, die bei unterschiedlichen Vätern, zu denen sie keinen guten Kontakt hat, in Göteborg und Kopenhagen leben. Bob bleibt bei ihr in Hamburg, bis ihn nach einer Weile wieder die alte Unruhe befällt und er zurückziehen möchte. Die Beweggründe deutet Luisa zunächst als Heimweh, obwohl sie feine Antennen hat für Unausgesprochenes, das sich immer wieder Bahn bricht und die teils irre Handlung vor sich hertreibt. Die wankenden Sicht Luisas verstärkt den Eindruck, dass in ihrer Welt nichts so ist wie es scheint. Bob und Luisa ziehen zurück in die Heimat, in ein Haus mit unverputzter Fassade, das sie Villa nennt. Mit der Zeit erkennt Luisa den wahren Grund für den Wunsch, zurückzugehen: Bob begeht Einbrüche in benachbarte Höfe, um, so der Vorwand, arisiertes Vermögen zu stehlen und an eine jüdische Organisation zu spenden. Letztlich bereicherte er sich aber wohl selbst. Luisa begleitet Bob zuweilen auf diesen nächtlichen Feldzügen, von seinem letzten kehrt er nicht lebend zurück.

Kurz darauf besucht Luisa, deren Leben ohne große Erschütterung weitergeht, unangekündigt ihre Kinder, Marie ist 14, Eric wenige Jahre jünger. Doch die Besuche verlaufen nicht wie Luisa es sich gewünscht hatte, sie fühlt sich ausgeschlossen und irrt, ebenso selbstbewusst wie innerlich leer, in „elsternhafter Rastlosigkeit“ durch die jeweilige Stadt. Zurück in Österreich, überlegt Luisa, aus Rosental wegzuziehen, begegnet aber Ferdinand Goldberger, Bobs mutmaßlichem Mörder wieder.  

Man kennt ihn bereits aus den Romanen „Roter Flieder“ (2012) und „Schwarzer Flieder“ (2014), welche die Chronik der Bauernfamilie Goldberger von der Zeit des Nationalsozialismus bis ins Heute erzählen. Ganz zu Beginn will uns diese Geschichte erzählt werden von einem „Schwachsinnigen“, wie es heißt – von Franz, einem jener, denen Reinhard Kaiser-Mühlecker so zugeneigt ist: Franz kann sich nicht artikulieren, wird nicht verstanden. Aber er ist der erste, der sieht, dass jemand Neuer ins Dorf kommt: NS-Ortsgruppenführer Goldberger, der Ur-Großvaters jenes Ferdinands, dem Luisa begegnet; und dieser Ur-Großvater hat eine schreckliche Schuld auf sich geladen, die die Generationen überdauert, und dem in Rosental eine neue Existenz versprochen wurde. Franz sieht, ohne irgendwelche Umstände zu kennen, auch sofort, um wen es sich handelt: „Der Mann hatte ein dunkles und, so empfand Franz es, böses Gesicht, wie vor Bosheit so dunkel geworden… Es war bereits Nacht, aber jetzt war es noch einmal Nacht geworden. (…) Trotz der Dunkelheit hatte er alles genau gesehen.“ 

Diese Dunkelheit, sei es in Wäldern, Schächten, Kellern oder den Figuren selbst, findet sich in so gut wie jedem Roman von Kaiser-Mühlecker und damit einhergehend das Tappen nach einer Wahrheit, die vor der Sprache kommt. Etwas Archaisches liegt dieser Literatur zugrunde und es ist die große Kunst dieses Autors, genau dafür eine Sprache zu finden, die man eine zärtliche nennen möchte. Zudem scheint er der festen Überzeugung zu sein, die „flackernden Schatten“ der Vergangenheit nur zähmen zu können, indem man hinabsteigt, zurückgeht, sie aufspürt in diesem Landstrich, der ein kontaminierter ist, und ihr ohne Angst in die Augen blickt. 

Mit einem „Narren“, der an Benji aus Faulkners „Sound and Fury“ denken lässt, beginnt also die Rosental Saga, die mit „Brennende Felder“ vielleicht ein Ende gefunden hat, vielleicht auch nicht. Deshalb trifft es die eingangs erwähnte Zuschreibung „Trilogie“ auch nicht ganz, denn die Kaiser-Mühleckersche Welt ist in Wahrheit viel größer und geht viel weiter zurück. Ein immer wiederkehrender Satz in dieser Welt lautet: „Gott straft bis ins siebte Glied“, bezugnehmend auf Moses, der sich, versteckt in Rechenbeispielen, auch im aktuellen Roman findet. Doch liegt dem Roman „Brennende Felder“ nicht mehr so sehr die Frage nach schicksalhafter Vorherbestimmung und einer Zeichnung zugrunde, sondern vielmehr die Frage, welchen Handlungsspielraum wir haben, oder noch haben, angesichts der uns umgebenden Katastrophen und der wortwörtlich brennenden Felder. Reinhard Kaiser-Mühlecker selbst macht in Interviews keinen Hehl daraus, dass er pessimistisch in unser aller Zukunft blickt. „Es war wie bei einem Stein, der den Berg hinabrollt, einem Schlitten, der abwärts fährt …“ heißt es in allen drei Büchern, die von der Familie Fischer handeln.

Ferdinand Goldberger bewirtschaftet den Familienbesitz, arbeitet für das Landwirtschaftsministerium und beschäftigt sich mit Themen rund um den Klimawandel. Er ist alleinerziehender Vater, sein zwölfjähriger Sohn Anton hat autistische Züge und ist das seelische Zentrum dieses Romans. Neben dem Vater scheint ihm die Hündin Rasha am nächsten zu stehen. Luisa fährt zu ihnen auf den Hof und gerät in eine Jagdgesellschaft, wenige Tage später nimmt Ferdinand sie auf ihren Wunsch hin zum Angeln mit. Sie will ihm näherkommen, schiebt Recherchezwecke vor: Sie plane, eine Geschichte zu schreiben, über einen alten Mann und eine junge Briefträgerin. In Anlehnung an Hemingway, den sie im Grunde nicht mag, überlegt sie, der Mann, der ein todlangweiliges Leben führen müsste, könnte doch angeln gehen. Der gemeinsame Ausflug, nicht frei von Komik, verläuft anders als sie es sich vorgestellt hatte. Seit Bobs Tod denkt Luisa noch mehr über das Schreiben nach, macht sich Notizen, sammelt Artikel und malt sich aus wie es wäre, eine berühmte Schriftstellerin zu sein. Zum einen will sie im Schreiben und sich selbst ein Zuhause finden, zum anderen denkt sie nur an Ruhm und will sich eine Identität zulegen, die nicht aus ihr selbst kommt. Nachts aber sehnt sie sich nach nichts mehr als sich selbst hinter sich lassen zu können, in etwas oder jemand anderem aufzugehen. 

Nachdem sie Ferdinands und Antons Vertrauen gewonnen hat, zieht sie zu ihnen auf den Hof. Einmal heißt es: „Zum ersten Mal in ihrem Leben war ihr bewusst geworden, wie genau sie das kannte, was man – sie selbst nicht, sie noch nie – Heimat nannte, und dass ihr das eine gewisse Sicherheit gab. Schluss jetzt aber mit diesen seltsamen Überlegungen, die sie gar nicht einmal sonderlich interessierten und fast wie die eines anderen waren.“ Nirgendwo meldet sich die Stimme des „anderen“, des Autors, so explizit zu Wort, aber obwohl er es gut meint mit seiner Figur und sie immer wieder Anlauf nehmen lässt, findet Luisa in sich keinen Frieden. 

Wie beiläufig beginnt sie eine Affäre und irgendwann spricht sie Ferdinand gegenüber, von dem sie sich zu wenig beachtet fühlt, „Du weißt nicht, was Liebe ist.“ aus – ein wiederkehrender Satz und Kernthema bei Kaiser-Mühlecker. Wie schon der „Stein, der abwärts rollt“ unweigerlich an Bob Dylan denken lässt, kennt man „Du weißt nicht, was Liebe ist“ aus der Filmgeschichte: Forrest Gump. Doch Vorsicht, man ist verleitet, in diesen Roman hineinzulegen, was man selbst an Gepäck mitbringt. Wie nie zuvor öffnet Reinhard Kaiser-Mühlecker, und er scheint eine rechte Freude daran zu haben, mit Verweisen, Rückbezügen zu vorigen Romanen und zum Teil nicht explizit ausgewiesenen Zitaten, auf deren Suche sich zu begeben für detektivisch veranlagte Leser*innen ein Vergnügen ist, Türen, durch die man gehen kann aber nicht muss, und führt die Leserinnen und Leser durch einen Wald der Fiktion, in dem man der eigenen Wahrnehmung nicht immer traut, Gefahr läuft, sich zu verirren, und Leidenschaften hineinzulegen, die der Text vielleicht nur zufällig weckt.

Reinhard Kaiser-Mühlecker, Wien, 2024, Peter Rigaud

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte in Wien und betreibt eine Landwirtschaft. »Ich sehe es als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt.« Sein Debütroman »Der lange Gang über die Stationen« erschien 2008, anschließend die Romane »Magdalenaberg«, »Wiedersehen in Fiumicino«, »Roter Flieder«, »Schwarzer Flieder« sowie »Zeichnungen. Drei Erzählungen«. Der Roman »Fremde Seele, dunkler Wald« stand 2016 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2019 erschien der Roman »Enteignung«. Für sein Werk wurde Reinhard Kaiser-Mühlecker mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Im Frühjahr 2022 erschien Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman »Wilderer«, der für den Deutschen Buchpreis und den Österreichischen Buchpreis nominiert war und mit dem Bayerischen Buchpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Für seinen Roman »Brennende Felder« ist Reinhard Kaiser-Mühlecker für den Österreichischen Buchpreis 2024 nominiert.

Die Pfade durch diesen Roman sind nicht ausgetreten, er lädt ein zu Erkundungen auch abseits des Weges und des Handlungsstrangs. Doch nicht nur in der Lust am Entdecken liegt die Herausforderung dieser Lektüre, die größte liegt wohl in einem selbst – sich immer wieder einzufangen und zu reflektieren in diesem Spiegelkabinett, das, Zitat Carsten Otte, „nichts für zarte Gemüter“ ist.

Luisas Überlegungen – wie könnte sie ihre Erzählung aufbauen, welche Kriterien gilt es zu beachten, was sagt die Schreibtrainerin – ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman und bilden sich dramaturgisch äußerst klug darin ab. Eine über den alten Mann lautet: „Es muss so sein, dass man denkt, man kennt ihn, und dass man bis zum Ende an seiner Seite ist, aber da nicht mehr denkt, man kennt ihn.“ Reinhard Kaiser-Mühlecker schreibt sogar, wie er es anstellt, man könnte das dreist nennen, doch er ist so vertraut mit dieser Trickkiste, dass er Tipps wie diese wie von leichter Hand einwirft und Gestalt annehmen lässt. „Man musste nicht alles erwähnen, weder jeden fremden Gedanken ausweisen noch jeden, der hinter dem Sichtbaren stand, preisgeben. Das war auch so ein Hinweis, den sie kürzlich auf Instagram gelesen hatte in irgendeiner Anzeige, in der es um die optimale Selbstdarstellung gegangen war, was sie aber aufs Schreiben gemünzt hatte: ,Erzähl den Menschen nicht alles!`“ Am Ende ist ihm mit „Brennende Felder“ ein Roman gelungen, der sein experimentellster ist und sich jeder Kategorisierung entzieht. Mit das Beeindruckendste: Dieser Autor hat keine Angst, scheint freigespielt wie wenige, von Erwartungshaltungen – ein wiederkehrendes Thema – und äußeren Zwängen.

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