Familienaufstellung: Bettina Scheiflingers Erbgut

REZENSION Barbara E. Seidl 06. Oktober 2022

Bevor wir in die Welt hinausziehen um eigene Erfahrungen zu machen, werden wir vor allem von unserem familiären Umfeld geprägt. Das „Erbgut“, verfolgt uns nicht nur biologisch sondern ist auch verantwortlich dafür, ob wir eher risikobereit oder ängstlich, beziehungsfreudig oder einzelgängerisch sind – sei es durch Nachahmung oder aus einem Wunsch nach Abgrenzung.

Familiengeschichten sind meist komplex, so auch in Bettina Scheiflingers Romandebüt Erbgut, das mit der Geburt der namenlosen Ich-Erzählerin beginnt und mit der Geburt ihrer eigenen Tochter endet. Dazwischen wird in Puzzleteilen die Familiengeschichte der Protagonistin aufgearbeitet, abwechselnd aus der Sicht der beiden Großmütter, der Mutter und des Vaters und nicht immer in chronologischer Reihenfolge. Die ungewöhnliche Struktur greift die Komplexität der familiären Beziehungen auf, sie verlangt den Leser*innen jedoch auch einiges ab – nicht immer fällt es leicht, bei den vielen Namen und Handlungssprüngen den Überblick zu bewahren.

Bettina Scheiflinger, Erbgut. Kremayr & Scheriau 2022, 192 Seiten, € 22.

Foto © Mercan Sümbültepe | Bettina Scheiflinger, geboren 1984 in der Schweiz. Auf das Lehramtsstudium und einige Jahre Unterrichtstätigkeit folgte 2017 der Umzug nach Wien. Studium der Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst sowie am Literaturinstitut Biel. Sie schreibt Theaterstücke und Kurzhörgeschichten, veröffentlicht Prosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. „Erbgut“ ist ihr Debütroman.

Was der Autorin mit diesem Kunstgriff jedoch meisterhaft gelingt, ist es, den Leser*innen anhand von Schlüsselsituationen das Gefühlsleben der Charaktere nachvollziehbar zu machen, ohne dieses erklären oder beschreiben zu müssen. Hat man sich einmal auf den Perspektivenwechsel eingelassen, so werden Scheiflingers Figuren mit der Zeit immer vertrauter und die Lücken in der Erzählung schließen sich wie von selbst.

Gerade die Bruchstellen, die durch den Perspektivenwechsel entstehen, legen das Unausgesprochene, das Unaussprechbare zwischen den Familienmitgliedern frei. Niemand scheint die Sprache der Anderen zu verstehen, nur die Leser*innen lernen die unterschiedlichen Sichten der Dinge kennen und leiden mit den Figuren mit.

Die Autorin verbindet das Schicksal dreier Generationen zu einer stimmigen Geschichte, die sich aus vielen Situationen zusammensetzt, die für die einzelnen Familienmitglieder prägend waren und somit zum Erbgut der Ich-Erzählerin wurden.

Ein Romandebüt, das vor allem durch seine ungewöhnliche Erzählweise auffällt und durch starke Sprachbilder überzeugt.

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