KURZPROSA von Klaus Prinz
Kurz nach Sonnenaufgang liege ich auf der Wiese vor dem Haus meines Großvaters und warte auf den Krankenwagen. Vielleicht besteht ein Sinn darin, dass die Dinge so geschehen, wie sie geschehen. Vielleicht hat alles seinen guten Grund. Wenige Zentimeter von meinem Kopf entfernt ist eine Heuschrecke auf einen langen Grashalm geklettert und versucht nun ihre Lage zu befestigen, indem sie sich einem Tropfen nähert, der an der Spitze des Halms hängt, ohne zu Boden zu fallen. Für das Sterben meines Großvaters gibt es so viele Gründe wie es Menschen gibt, die sie aussprechen. Er zehrt sich aus, weil er nicht mehr will. Den Entbehrungen seiner Kindheit ist die Kraftlosigkeit geschuldet, sie hinterlässt ihre Spuren bis ins hohe Alter. Sie geben ihm zu wenig zu essen. Wir müssten ihn zur Bewegung zwingen. Er nimmt nichts zu sich, hält mit letzter Kraft seine Lippen versiegelt, um noch einmal recht zu behalten. Er ist schuld, sie sind schuld, wir sind schuld, niemand. Er ist alt. Wolken ziehen über den Himmel, manche sind schneller als andere. Freilich lassen sich Gestalten in ihnen erkennen. Das ist nicht schwer. Man sucht sich eine Form aus der Menge, weist ihr eine bekannte Gestalt zu und bestimmt, in welche Richtung sie drängt. So sieht man, was sie flieht, daraus erkennt man, was sie will. Hat man eine Gestalt bestimmt, ergeben sich die anderen in Abhängigkeit zu ihr und von selbst. Nach und nach hüllt der Himmel sich in Gründe, Wahllosigkeit ist ein Abgrund, der keine ersten Formen kennt. Mein Großvater war gut darin, den Dingen ihren Grund zu geben. Er sagte, man muss bloß sein Leben als Maß an die Welt legen und ein wenig warten, die Ereignisse belauern. Alles ist erklärlich, nein, kein Grund, zu verzweifeln. Bei der Beerdigung wird der neue Pfarrer das letzte Wort haben wollen, dem Sterben und Leben meines Großvaters seine letzte Deutung antun, dann erst wird der Sarg geschlossen. Ein strebsames Leben in Demut und Gottesfurcht. Ein friedliches Sterben im Kreise der Familie. Danach gehen wir zum Mittagessen. Wenn ich stolz erwidere, dass mein Großvater nicht an seinen Gott glaubte, gestalte ich eine erste Wolke wie er. Immerhin weiß ich es. Die Heuschrecke hat ihre Position nicht mehr verändert. Sie berührt den Tropfen nicht, sie lauert und starrt furchtlos in den Abgrund. Was sind ihre Gründe gegen meine? Was sind meine gegen ihre? Der Krankenwagen fährt zu langsam die Einfahrt hinauf. Sie haben vergessen, die Sirene einzuschalten. Als ich meinen Blick wieder gegen den Himmel richte, kann ich in den Wolken nichts mehr erkennen. Ich stehe vorsichtig auf, trotzdem stoße ich Tropfen von den Halmen. Nicht schlimm, hätte mein Großvater gesagt.
Über den Autor:
Klaus Prinz, geboren 1985, aufgewachsen in Wien und im Waldviertel, studierte Germanistik und Philosophie, lebt und arbeitet in Wien. Er schreibt Erzählungen, Essays und Aphorismen, nahm als Autor an einigen Lesungen teil (zuletzt UnHeimlich, GAV 2022) und folgt an guten Tagen, beim Podcasten oder Tauchen, Schopenhauers Gedanken nicht aufs Wort.