Im Weitergehen wachsen Flügel: Kaśka Brylas Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich

REZENSION Barbara Seidl-Reutz 07.11.2025

Kaśka Brylas Roman Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich ist eine vielstimmige Erkundung dessen, was bleibt, wenn Körper, Herkunft und Sprache fragil werden und sich in diesen Brüchen neu zusammensetzen. Die Erzählerin lebt nach einer Covid-Erkrankung auf einem Wagenplatz, in einer Zwischenwelt, halb geschützt, halb verloren. Sie ist nicht allein, doch der Kontakt zur Außenwelt ist eingeschränkt. Durch ein verletztes Krähenbaby bekommt sie wieder Halt und eine Form von körperlicher Nähe.

Die fragile Gegenwart wird von einer zweiten Zeitebene überlagert, von der Vergangenheit des verstorbenen Vaters, der den sowjetischen Gulag überlebt hat und dessen Stimme durch Tonbandaufnahmen wieder lebendig wird. Nun ist es an der Tochter, seine Geschichte weiterzuerzählen. Doch die Arbeit am Buch kommt nur langsam voran. Es entsteht ein unaufhörliches Zwiegespräch zwischen Tochter und Vater, zwischen Gegenwart und Geschichte, zwischen Körper und Geist. Die Autorin verwebt diese Stimmen so eng, dass die Grenze zwischen Erinnern und Einbildung kaum noch zu erkennen ist.

Foto © Carolin Krahl

KAŚKA BRYLA, zwischen Wien und Warschau aufgewachsen. Studium der Volks­wirtschaft in Wien, Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, wo sie 2015 die Literatur­zeitschrift und das Autor*in­nennetzwerk „PS – Politisch Schreiben“ mitbegründete. Sie war Redakteurin des Monatsmagazins „an.schläge“ und erhielt bislang zahlreiche Stipendien und Preise. 2023 wurde ihr Theaterstück „Im Herzen der Krähen“ uraufgeführt. 2020 erschien ihr Debütroman „Roter Affe“, 2022 der Roman „Die Eistaucher“. 2024 las Kaśka Bryla auf Einladung von Brigitte Schwens-­Harrant in Klagenfurt beim Ingeborg­-Bachmann-­Preis einen Auszug aus dem Roman „Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich“, der 2025 im Residenz Verlag erschienen ist. www.kaskabryla.com

Inmitten dieser Stimmenwelt wächst Karl, die Krähe. Karl ist zunächst ein hilfloses Tier, das gefüttert, gewärmt und umsorgt werden muss. Während die Erzählerin ihn aufzieht, beobachtet sie, wie Karl fällt, sich aufrappelt und wieder versucht zu fliegen. In ihm spiegelt sich eine gemeinsame Verletzlichkeit und zugleich ein leiser Überlebenswille wider. Die Krähe wird zu einem Gegenüber, das die Verbindung zwischen physischer Schwäche und innerer Stärke sichtbar macht.

Kaska Bryla erzählt diese drei Ebenen nicht nebeneinander, sondern ineinander verschränkt. Der Roman liest sich wie ein Gewebe aus Erinnerungsfäden, Gedanken und inneren Stimmen. Er erzählt von Einsamkeit, aber auch von der Möglichkeit, ihr zu begegnen. Die Erzählerin, der Vater und die Krähe sind auf unterschiedliche Weise eingeschlossen, und doch entsteht zwischen ihnen eine Verbindung. Isolation erscheint hier nicht als Leere, sondern als Zustand, in dem neue Formen von Nähe wachsen können.

Zugleich ist Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich ein Roman über Identität. Die Autorin versteht Zugehörigkeit nicht als festen Ort, sondern als Bewegung zwischen Sprachen, Geschlechtern und Generationen.

Sprachlich ist der Text ein Strom. Er folgt dem Rhythmus eines Körpers, der sich seinen Weg zurück ins Leben ertastet, und eines Geistes, der nicht zur Ruhe kommt. Es gibt darin keine lineare Ordnung und keine abschließende Deutung, aber eine leise Beharrlichkeit und einen Ton des Weitergehens.

Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich ist ein Roman über das Sprechen, wenn Schweigen keine Option ist, über das Hören, wenn Nähe nur noch als Echo existiert, und über die Möglichkeit, im verletzlichen Anderen – ob Mensch oder Tier – etwas zu erkennen, das uns verbindet. In dieser stillen, unhierarchischen Verbundenheit liegt die Kraft des Buches: die Einsicht, dass Resilienz nicht im Überwinden liegt, sondern im Weitermachen.


Über das Buch:

Kaśka Bryla, Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich. Residenz Verlag 2025, 256 S.

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