„Wir sind doch kein Feuerwehrfest!“ Barbara Riegers Eskalationsstufen

REZENSION Elke Steiner, 06. März 2024

Die Leidenschaft für Kunst führt sie zusammen, Julia und Joe lernen sich bei einer Vernissage kennen. Julia, die ihr zeichnerisches Talent nicht in eine professionelle Bahn lenken konnte, die als Deutschtrainerin in Wien lebt und als eine von vielen bei dieser Ausstellung mitwirkt. Joe, der bildende Künstler, Jurymitglied für die Ausstellung. Joe, der Eloquente, der Anziehende. Dessen Haare Julia schon bei der ersten Begegnung gerne zeichnen würde. 

Wäre da nicht David, mit dem Julia zusammen ist. Wäre da nicht Maria, die verschwundene Frau von Joe. Und wäre da nicht die Vereinbarung zwischen Julia und David: Eine Offene Beziehung, aber ohne verlieben.

Der Titel und der Klappentext nehmen vorweg, was die Protagonistin zunächst ausblendet. Doch Ausblenden gerät zu einem Dauerzustand. Was nicht sein kann, passiert. Übergriffe passieren bei anderen, wie zum Beispiel bei Fatima aus dem Deutschkurs, deren rote Striemen man richtig deutet und reagiert. 

Barbara Rieger, geboren 1982 in Graz, lebt und arbeitet als Autorin und Schreibpädagogin in Wien und im Almtal (OÖ). Gemeinsam mit Alain Barbero ist sie Herausgeberin des Foto- & Literaturblogs „cafe.entropy.at“ sowie mehrerer Anthologien. Zuletzt erschien der Roman „Friss oder stirb“ (Kremayr & Scheriau 2020). Für einen Auszug aus „Eskalationsstufen“ erhielt sie den Marianne von Willemer-Frauenliteraturpreis der Stadt Linz. Foto: Alain Barbero

Julia lässt sich umgarnen vom weltmännischen Gehabe Joes, ist beeindruckt von seinem Atelier, in dem er ihr anbietet, zu wohnen, zu zeichnen. Der Wechsel von David zu Joe, der Umzug vollzieht sich so schmerzhaft wie logisch, die erotische Anziehungskraft wirkt wie ein Killer für alle Irritationen, für die verstörenden Bilder in Joes Atelier, die zunehmend gönnerhaften Gesten, die sich bald auswachsen zu mehr oder weniger versteckten Demütigungen. „Bitte nicht!“ möchte man stellenweise zu Julia in die grellweißen Buchseiten hineinschreien, und genau das ist es, was aufwühlt und womit Barbara Rieger gekonnt arbeitet: Mit dem Bauchgefühl der Leserinnen und Leser, denen sie einen gewissen Vorsprung zugesteht, denen sie aber auch nicht allzu viele Antworten anbietet auf die Fragen nach dem WARUM. 

„Eskalationsstufen“ ist kein gefälliger Titel für einen Roman, er ist auch Begriff für ein psychologisches Modell in der Konfliktforschung. Und so klettert man gemeinsam mit der Protagonistin Julia immer weiter die Treppe hinauf. Oder hinunter. 

Keine einzige Stufe möchte man überspringen, keine einzige Zeile, weil: Da ist Barbara Riegers Sprache. Wie Flut und Ebbe zieht sie sich konsequent und niemals aufdringlich durch alle Kapitel und spült die schwere Kost nur scheinbar mit Leichtigkeit an. Faszinierend immer wieder dieses leichte Zurückschwappen der Sätze, die einen Augenblick später als Wortwellen in all ihrer Härte herandonnern. Immer wieder auch ein Verschwimmen der Sätze, will er von mir, will ich von ihm, ein Verschwimmen der Perspektiven, wir sind eine Möglichkeit, eine Unmöglichkeit

Was an einer Stelle passiert, wird oft nur angedeutet, um später an anderer Stelle nonchalant aufgelöst zu werden. „Eskalationsstufen“ ist kein verwinkelter Roman, er steuert geradewegs auf etwas zu, von dem wir hoffen, dass es nicht eintrifft. In seiner Sprache, die so heute ist, schreit er förmlich danach, Schullektüre zu werden, in einem fächerübergreifenden Unterricht in Literatur und Psychologie (gewaltfreie Kommunikation!) zu landen. Bester Satz: „Wir sind doch kein Feuerwehrfest!“.


Barbara Rieger, Eskalationsstufen. Kremayr & Scheriau 2024, 232 Seiten, Hardcover 24 €.

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