Im Raubmonat Mai: Über den vergessenen Autor Georg Paulmichl und unsere ableistische  Literaturrezeption

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Ein Gastessay von Sebastian Schmidt, 18. März 2022

Als ich im Rahmen meines Zivildienstes vor rund 10 Jahren das erste Mal mit Menschen mit Behinderung zusammenarbeiten durfte, bedeuteten mir die großartigen Narrative, die sich aus unserem täglichen Zusammenkommen ergaben, zunächst leider nicht viel mehr als gewonnene Anekdoten, etwas Spektakuläres. Erst im späteren Verlauf meiner Arbeit habe ich verstanden, dass nicht nur die Inhalte, sondern auch Art und Weise unserer Schilderungen stark wirkten; wie wir uns Dinge am Kaffeetisch, auf Ausflügen oder beim Abendessen erzählten. Die geschilderten Perspektiven und Darstellungen von Realität wurden mir wichtig.

Der Literaturbetrieb ist ableistisch. Nicht nur, weil die “volle[n] und wirksame[n] Teilhabe an der Gesellschaft” in keinem Landstrich des Genres stattfindet, sondern weil dort, wo versucht wird zu inkludieren, Menschen mit Behinderung zumeist als Leidende oder Hilfsbedürftige sichtbar gemacht werden. Einen nicht literaturspezifischen, aber sehr guten Überblick zu diesem Thema bietet unter anderem Tanja Kollodzieyskis Buch “Ableismus”, erschienen im Verlag SuKultur. 

Ein Autor, dessen Literatur ich immer wieder gelesen und besonders liebgewonnen habe, ist Georg Paulmichl. Es ist sehr schade, dass seine Bücher heute nur noch wenig Aufmerksamkeit erfahren. Georg Paulmichl hatte einen Schaffenshöhepunkt in den 90er und 00er-Jahren und man wird den Eindruck nicht los, dass es die Wahrnehmung und Stigmatisierung als Mensch mit Behinderung war, die ihn hinter der Schallmauer zur Allbekanntheit verhaftet sein ließ. Wie auch heute noch war es immer Paulmichls Anderssein, das für die meisten seiner Rezensent*innen im Vordergrund stand und an der sich auch das Interesse an seiner Literatur ausrichtete. 

Erschreckenderweise, so mein Eindruck, sind wir beim Thema Ableismus im Literaturbetrieb, allem voran in der Rezeption von Literatur, seit dreißig Jahren nur sehr wenig weitergekommen. 

Es geht mir um Georg Paulmichl, darum, ihn anlässlich seines zweiten Todestages ins Gedächtnis zu rufen, aber auch die Barrieren zu erinnern, denen er sich als Schriftsteller mit Behinderung gegenübersah. 

“Hallo du edle Behindertenbetreuerin!

Ich bin’s, hallo! Gegrüßet seist du vom Dichter. Du bist auf der Erinnerungsbahn nicht abgerutscht.”

Georg Paulmichl, Vom Augenmaß überwältigt (Haymon Verlag. Innsbruck, 
2001)

Georg Paulmichl wurde 1960 in Schlanders geboren und lebte zunächst bei seinen Eltern, später, auf eigenen Wunsch, in der Unterbringung für Menschen mit Behinderung in Prad im Vinschgau, Südtirol. Paulmichl hatte von Anfang an eine große Begabung zum Reden, sprach ununterbrochen. In Prad wurde der dort arbeitende Dietmar Raffeiner auf Paulmichl aufmerksam und bot sich ihm als “Sekretär und Schreibkraft sozusagen” an. 

Ganz ähnlich wie bei Ernst Herbeck und Leo Navratil war die Entstehung von Text immer auch eine Kooperation zwischen Paulmichl und einer Person, die an der Schreibmaschine saß und mithalf. Dabei sollte ich besser schreiben: ganz genau so, wie es bei fast jedem Schriftsteller (mir ist dieses Phänomen, abgesehen von Gertrude Stein, tatsächlich nur von Männern bekannt) des analogen Zeitalters der Fall war. Der progressive Raffeiner tippte in Prad für Paulmichl, sortierte, adressierte und gab ihm Schlagworte zur Verarbeitung. Raffeiner sendete auch Paulmichls Texte ein, sodass sie zunächst in Zeitschriften gedruckt wurden. Für Paulmichl begann ein Dasein als Schriftsteller und er füllte es lausbubenhaft aus.

“Beim Lagerfeuer erzählen die Urlaubsveteranen vom lustigen Alltagsstress. Grölgesänge sind verboten, weil sonst die Erholung kippt.

Auch die Pudelhunde müssen auf dem Zeltplatz den richtigen Stuhlgang beachten.

Die nackten Muskelklöse werden vor der Sonne aufgetischt.”

Georg Paulmichl, „Campingplatz“ (in: Der Georg. Haymon Verlag. 
Innsbruck, 2008)

Der Haymon Verlag, der Paulmichls Kunst erkannte und stets Fürsprecher seiner Werke war, veröffentlichte seine Texte erstmals 1990. Georg Paulmichl wurde für seine Werke mehrfach ausgezeichnet, unter anderem auf Empfehlung von Thomas Hürlimann mit dem Förderpreis der Goethestiftung Basel und mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst.

Anhand der Titel seiner wichtigsten Bücher lernen wir bereits viel über Paulmichls Prosa: Verkürzte Landschaft (1990), Ins Leben gestemmt (1994) und Vom Augenmaß überwältigt (2001). Paulmichl war ein begnadeter Beobachter, der mir die Welt mit seinen Texten ein bisschen neuer gemacht hat, weil er so wild kombinierte. Ich werde bei Paulmichls Texten immer sehr unsicher, auf eine gewinnbringende Art. (“Die Dökter haben vom Bazillus keinen Tau” / “Alles, was jeder weiß, wird noch einmal ordentlich erzählt”). Seine Beschreibungen halten sich meist im Alltäglichen auf, der Autor bleibt geographisch in einer kleinen Welt, betrachtet sich darin als “Weltenbummler”. Paulmichls Briefe richten sich an Personen, die der Autor entweder gut kennt oder aber nur einmal flüchtig gesehen hat (“Fröhliche Frau aus Wörgl!”). Auch seine Datumsangaben sind Literatur und beziehen den Inhalt seiner Briefe mit ein: “Prad, im Raubmonat Mai” / “Oktoberfall” / “Bratäpfelzeit 2000”

Ursula K. le Guin hat in ihrem Essay Weithin verwandt einmal geschrieben: “[…] indem sie ästhetische Ordnungs- und Schönheitsprinzipien demonstriert und darbietet, kann die Poesie unser Bewusstsein um ein Gefühl der Verbundenheit erweitern […].” Dies genau passiert mir mit Paulmichl, wenn er die täglichen Formeln auf das Kleinklein, auf Unbillen und Schwächen anwendet, und uns damit an die Ordentlichkeit und Biederkeit unserer Sprachverwendung erinnert, auch und gerade in der Literatur. Etwa hier:

“Geehrte Frau aus dem Inntal!

Gruß vom Georg höchstpersönlich. Auf dem Foto das bin ich. Ohne Furcht und Tadel schaue ich in die Linse und laß mich teilhaben an der Fotografie.”

Georg Paulmichl: Vom Augenmaß überwältigt (Haymon Verlag. Innsbruck, 
2001)

Zunächst belustigt eine*n bei diesem brieflichen Gruß an eine Unbekannte ja die Betonung, dass die abgebildete Person tatsächlich er selbst, Georg Paulmichl, ist. Man spürt die Freude, Aufregung, aber auch Angst davor, vielleicht verwechselt zu werden mit jemandem. Dann dieses “ohne Furcht und Tadel”: Ritter wurden im Mittelalter durch dieses Saying geehrt. Fotografieren funktioniert hier als eine Geste des Ritterschlags, ein bisschen aus der Zeit gefallen, und trotzdem noch gültig. Schließlich der letzte und schönste Teil, dass Paulmichl sich selbst teilhaben lässt an der Fotografie. Sich Kameralinse oder Smartphone hingeben, nicht immer wissen, was der*die andere gerade sieht, das Ausgeliefertsein, all dies holt sich Paulmichl zurück, indem er sich per Sprache selbstermächtigt. 

Wie Paulmichl wahrgenommen wurde: Interessant sind die abgedruckten Vor- und Nachworte, sowie ein Dokumentarfilm und Mitschnitte von Lesungen, die frei verfügbar sind. Aus ihnen lässt sich gut nachvollziehen, welchen Ressentiments und damit Barrieren sich der Autor gegenübersah:

Zunächst, und damit einer der vermutlich häufigsten Hinderungsgründe gegen die (kanonische) Aufnahme von Literatur von Menschen mit Behinderung, wurde Paulmichl immer wieder die Frage nach seiner Intention, bzw. “was mit bestimmter Absicht so geschrieben sei?”, gestellt. Dies beinhaltet zwei grundsätzliche Probleme, die unfairerweise nur bei Menschen mit Behinderung angewandt werden. 

Erstens: Der oben genannten Frage vorangestellt steht stets die Biographie der*des Autor*in. Im Gros der Kritiken zu Texten von Menschen mit Behinderung nimmt die Darstellung der Behinderung mehr Raum ein als die Auseinandersetzung mit dem Text selbst. So referierte der Kritiker Michael Braun erst neulich in der Zeitschrift Volltext in Dreivierteln des Textes über Ernst Herbecks psychische Verfassung, um dann noch zwei-drei müde Sätze zu seinem abgedruckten Gedicht zu verlieren. Georg Paulmichl ging es in Interviews und Kritiken ähnlich.

Zweitens: Brauchen wir als Leser*innen immer das Wissen darüber, dass ein Werk völlig bewusst und intendiert hergestellt wird? Wird der Text erst durch das Vertreten einer Idee vom eigenen Werk zu einer für uns akzeptablen Sache legitimiert? Natürlich denke ich nicht nur an Jack Kerouak, der (fälschlicherweise) dafür gefeiert wird, seinen Roman On the Road in einer Session von wenigen Stunden geschrieben zu haben. Die Antwort ist: No!

Wie übergriffig und ableistisch ist es überhaupt, Autor*innen mit Behinderung zu unterstellen, sie würden Texte ohne Absicht schreiben? Wir sind von dieser Vorstellung ja bereits seit Freuds Idee des Unterbewussten abgekommen. Woher weiß ich, wie bewusst ein*e Autor*in schreibt, welche Wortspiele intendiert, welche Satzzeichen gewollt sind? Aber noch immer betrachten wir Schriftsteller*innen mit Behinderung als Künstler*innen, die sich, wie es Florian Reese einmal in einer Kritik formuliert hat, “Jenseits der kulturellen Kunst und damit auch jenseits schlüssiger Eigenpositionen” befinden. Ableism at its best! (Anm.: Florian Reeses Aussage ist hier entkontextualisiert, er kritisierte Ableismus in dieser Aussage eigtl.)

Aber das war’s noch nicht, es geht noch schlimmer: Geht es hinsichtlich der Entstehung von Paulmichls Texten um eine Frage der Leistung, also um eine Frage der Gerechtigkeit, wie im Vorwort zu Ins Leben gestemmt aufgemerkt wird? Wie sehr wir Leistung von Menschen mit Behinderung wertschätzen, zeigt die monetäre Gegenleistung ihrer Arbeit: ein Stundenlohn von rund 1,50 Euro (in Dt.). Das ist, selbst wenn man Wohnung und Lebensunterhalt abzieht, niente.

Und dann dieses Problem mit dem Großmut: in den auf Youtube verfügbaren Videos über Paulmichl hat man immer den Eindruck, seine Texte klemmen im Publikum fest, zwischen Bewunderung und einer Gerechtigkeit, der den Fragesteller*innen pausenlos zu entweichen scheint, ausgedrückt im Dauerzustand des Lächelns, des Nickens. Dabei ist bei Weitem nicht alles witzig, was der Autor liest und schreibt. 

Paulmichl selbst wusste um den schlechten Standtpunkt bezüglich der Würdigung der Arbeit von Menschen mit Behinderung:

“Die neue Behindertenwerkstätte in Prad wird für die Eröffnungszeremonie sauber eingefegt. Für die Bevölkerungsschicht sind die Behinderten keine Unterhaltung wert. Aber der Eröffnungsplan muss halt vonstatten laufen. Bei der Eröffnung können alle Beamtengattungen das Glas zum Prositgesang erheben. […] Mit Wein und Kekssorten wird abgespeist, was die Rachenkehlen erschlingen.” 

Georg Paulmichl, Vom Augenmaß überwältigt (Haymon Verlag. Innsbruck, 
2001)

Googelt man “Literatur von Menschen mit Behinderung” erhält man fast ausschließlich eine Liste mit Literatur ÜBER Behinderung, gefolgt von Listen mit Ratgebern, Tagebüchern von Pfleger*innen, Kochbüchern [sic] etc. Interessanterweise auch erzielen Bücher von Menschen ohne Behinderung über Protagonisten mit Behinderung oft horrende Verkaufszahlen (Supergute TageDas Rosie-Projekt, etc.)

Wie nun könnte ein Literaturbetrieb, der hier und da gute Ansätze erkennen lässt, die Idee einer barrierefreien Partizipation aktualisieren?

Im Vergleich zur bildenden Kunst besteht zunächst für viele das praktische Hindernis der Lese- und Schreibfähigkeit. Doch während die gattungsgeilere bildende Kunst sich, beginnend mit Bezeichnungen wie Art Brut, bereits weitergearbeitet hat und entschieden weniger festzuhängen scheint (Atelier 10, Gugginger Kolonie, Kunstwerkstätten der Lebenshilfe etc.), gab es in der belletristischen Literatur auch hinsichtlich eines Labels wenige bis keine Bemühungen um Inklusion. Auch Begriffe wie Outsider Art und special Innocents sind ja bereits überwunden, bei denen eine “Dramatik der Biografie, die Sehnsucht nach dem exotisch unberührten, das Mitleid und die Verniedlichung bzw. das hineingelesene Moment des Heroischen oder Authentischen”, im Mittelpunkt stehen (noch einmal Florian Reese). 

Auch die Verknüpfung von Naivität und Literatur ist ein großes Problem. Häufig wird Literatur von Menschen mit Behinderung, wenn sie denn irgendwo sichtbar gemacht wird, mit Bildern illustriert (Buchcover, Ausschreibung, Plakate), die in Assoziation mit kindlichen oder naiven Schemata stehen. Sicher mögen einige Zeichnungen von Menschen mit Behinderung der Naiven Kunst nahe sein, ein großer Teil jedoch ist es nicht. So wird Literatur mit Kunst zementiert und umgekehrt. Auch darüber sollten wir uns im Klaren werden und versuchen, dies zu vermeiden. Paulmichl konnte das nicht passieren, er malte und stellte selbst aus und ich verwechsele ihn manchmal mit Ludwig Kirchner.

Zunächst sollten wir versuchen, ernstzunehmender zu Lesen und zu gestalten. Wir brauchen Partizipation und Auseinandersetzung auf Podien, in Lesungen, keine Labels. Man stelle sich vor, wie der Suhrkamp Verlag, Fischer o.Ä. jedes Jahr mindestens eine*n Autorin mit Behinderung verlegten. Einfach so. Und immerhin: erst kürzlich berichtete eine Autorin auf Twitter, dass ihr ein großer Verlag das sensitivity reading ihres Manuskripts gezahlt hat. Ein Anfang.

Auch um die Annäherung von Literatur und heilpädagogischen Konzepten  müssten wir uns kümmern. Barrierefreie Sprache sollte auch in der Germanistik mehr diskutiert werden und Platz haben, bisher existiert sie als Randerscheinung ohne massenkulturellen Bezug. Es gibt bereits kleine Ecken in großen Bibliotheken, aber auch gute Ratgeber und Hilfestellung für barrierefreie Sprache. 

Wie auch bei Dietmar Raffeiner und Georg Paulmichl darf all das nicht über dem Text stehen. 

“Die ewigen Mundverschlüsse schallen mir stumm entgegen. Jeder muss in sein Gras beißen, wenn die Kräfte abfallen. Auch du wirst dem Erdboden gleichgemacht.”

Georg Paulmichl, Vom Auganmaß überwältigt (Haymon Verlag. Innsbruck, 
2008)

Georg Paumichls Todestag jährt sich am 18. März zum zweiten Mal, der Autor starb  2020 nahe seinem Geburtsort in Prad. Nach seinem Tod, sowie zu seinem ersten Todestag, haben sich nur wenige Menschen an seine Literatur erinnert. Auf http://www.georgpaulmichl.com/ findet man weitere Informationen über ihn. Außerdem sind einige seiner Werke im Haymon Verlag erhältlich.


Geboren 1983, aufgewachsen in und um Heidelberg. Studium Geografie und Anglistik in Deutschland und Großbritannien. Prosa, Lyrik und Essays erschienen in Zeitschriften wie Lichtungen und GYM, Anthologien (u.a. JENNY, Dichtungsring zum 6. Bonner Literaturpreis) und online (u.a. litrobona.at, other-writers.de, absolut-zine.com). Aktuell schreibt Sebastian Schmidt monatlich Buchkritiken für die Zeitschrift TAGEBUCH. 2021/22 erhielt er das Stipendium “Junge Kunst und neue Wege” des bayerischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Im Frühjahr 2022 erschienen seine Erzählung „Alle Instrumente“ im Berliner VHV-Verlag, sowie sein Lyrikdebut „so stelle ich mir den gesang von erst kürzlich mutierten finken vor“ im Verlag parasitenpresse (Köln). Für Gedichte daraus war er für den Dresdner Lyrikpreis 2022 nominiert. Seine Texte wurden bereits in mehrere Sprachen übersetzt. Sebastian Schmidt lebt in Würzburg. 

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