Der Wald ruft: Jessica Linds Mama

REZENSION Barbara E. Seidl 10.September 2021

Eine Frau mit sehnlichem Kinderwunsch, eine einsame Hütte und ein Wald voll dubioser Gestalten: Jessica Linds Romandebüt nähert sich dem Thema Mutterschaft von einer etwas anderen Perspektive.

Mutter zu werden ist das schönste und erfüllendste, was einer Frau passieren kann – so oder ähnlich wird es Frauen jedenfalls seit Menschengedenken weisgemacht. Wenn aufgrund der gesteigerten Durchblutung die Wangen rot erscheinen, wird der werdenden Mama gerne gesagt, sie strahle förmlich vor Glück, auch wenn diese das, von Übelkeit und Ängsten geplagt, oft selbst ein wenig anders empfindet.

Genau diese Ängste, die immer noch viel zu oft verschwiegen werden, sind auch zentrales Thema in Jessica Linds Mama. Wie in einem Horror-Thriller arbeitet die Autorin das Unheimliche heraus, dem die schwangere Amira in Form von rätselhaften Gestalten begegnet, die der Frau in der einsamen Waldhütte ihres Partners einen Besuch abstatten. Hin und hergerissen zwischen inniger Mutterliebe und tiefer Verunsicherung, ringt Amira um Selbstbehauptung und Unabhängigkeit.

Mama lässt die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen. Dabei wird der Wald, von dem sich Amira wie magisch angezogen fühlt, zu einem Spiegel ihres Innenlebens. Mal unvergleichbar schön, dann wieder labyrinthisch bis unheimlich, scheint der Wald die Frau ganz für sich einnehmen zu wollen.

Jessica Lind, Mama, Kremayr & Scheriau 2021, 192 Seiten, € 20.
Foto: Mercan Sümbültepe

Jessica Lind, geboren 1988 in St. Pölten, Drehbuchstudium an der Filmakademie Wien, lebt in Wien. Autorin des Science-Fiction-Films Rubikon (gemeinsam mit Regisseurin Magdalena Lauritsch). Als Dramaturgin betreute sie Little Joe von Jessica Hausner, Premiere in Cannes 2019. 2015 Gewinnerin des 23. open mike mit der Kurzgeschichte Mama, auf der dieser Roman aufbaut. 2016 Achensee.Literatour Stipendium. 2017 Stipendiatin des 21. Klagenfurter Literaturkurses, 2019 Stipendiatin der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung.

Jessica Lind, die sich bereits als Drehbuchautorin und Dramaturgin von Science Fiction und Psychothrillern einen Namen gemacht hat, lässt auch in ihrem Romandebüt ihr Faible für das Unheimliche erkennen. Ihre klare Sprache, die ohne komplexe Satzkonstruktionen auskommt, entwirft ein nuanciertes Stimmungsbild, das die Leser:innen immer tiefer in den Sog der Geschichte hineinzieht.

Ungewöhnlich, irritierend und dabei ungemein spannend liest sich Mama wie eine fantastische Parabel über die Urgewalt der Mutterschaft und die Wechselwirkung zwischen innerem Empfinden und äußerem Erleben.

Ein außergewöhnliches, vielschichtiges und überraschendes Buch, das Lust macht auf einen einsamen Spaziergang durch einen dunklen Wald.


Barbara E. Seidl ist freie Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Trainerin für Deutsch und Englisch als Fremdsprache.

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