REZENSION Barbara E.Seidl-Reutz 18.Juni 2025
Es ist paradox: Noch nie war unsere Welt so hell erleuchtet, noch nie war sie zugleich so blind für das, was Dunkelheit eigentlich bedeutet. Straßenlaternen fluten die Nacht, Bildschirme flackern bis in die frühen Morgenstunden, und sogar die Sterne verschwinden hinter dem Schimmer der Städte. In dieser flimmernden Dauerbeleuchtung setzt Lisa-Viktoria Niederberger ein eindringliches Zeichen. Ihr Essay Dunkelheit ist eine Einladung zum Innehalten.
Die Autorin schreibt keinen Alarmruf gegen Lichtverschmutzung, keinen ökologischen Appell, obwohl diese Themen stets mitschwingen. Ihr Zugang ist persönlicher, poetischer und zugleich kulturgeschichtlich tief fundiert. Die Dunkelheit, so zeigt sie, ist nicht bloß die Abwesenheit von Licht, sondern ein Erfahrungsraum, der uns verloren gegangen ist. Sie ist nicht nur Nacht, sondern auch geheimnisvolles und vielstimmiges Terrain.
Es ist ein mutiger Akt, sich der Dunkelheit zuzuwenden. Seit Jahrhunderten haben wir sie mit Angst besetzt, mit Unsicherheit, mit Gefahr. Doch der Essay zeichnet ein Gegenbild: Die Dunkelheit als Schutzraum, als Ort der Intimität, der Selbstbegegnung, der Entschleunigung. Lisa-Viktoria Niederbergers Sprache ist dabei voller Zartheit und Sensibilität. Sie nähert sich der Nacht wie einer alten, verkannten Freundin, die sie an der Hand nimmt, um uns ihre Schönheiten erneut zu zeigen.

Lisa-Viktoria Niederberger, geboren 1988, lebt als Schriftstellerin und Kulturwissenschaftlerin in Linz. Ihr Schreiben geht oft Zusammenhängen, feinen Verbindungen und feministischen Fragestellungen nach und scheut sich nicht, nach Schönheit auch an den allerdunkelsten Orten zu suchen. Ihre Prosa wurde u. a. mit dem Kunstförderpreis der Stadt Linz, dem Theodor-Körner-Förderpreis und dem Exil-Literaturpreis ausgezeichnet. Im April erschien ihr Kinderbuch Helle Sterne, dunkle Nacht mit Illustrationen von Anna Horak im Achse Verlag. Im März 2025 erscheinen ihre literarischen Essays über die Dunkelheit bei Haymon. Foto© Zoe Goldstein
Immer wieder gelingt es ihr, kulturhistorische Exkurse organisch mit dem eigenen Erleben zu verweben. Da tauchen alte Mythen auf, Sternbilder, die im Lichtmeer der Städte verblassen, philosophische Reflexionen über Licht und Schatten. Ohne akademische Strenge, aber mit kluger Präzision lotet sie aus, wie sehr unser Umgang mit der Dunkelheit auch Spiegel unserer Haltung zur Welt ist: unser Bedürfnis nach Kontrolle, nach Dauerverfügbarkeit, nach Sicherung aller Räume, selbst jener, die vielleicht gerade durch ihre Unzugänglichkeit Bedeutung erhalten.
Dunkelheit liest sich wie ein Spaziergang durch eine Nachtlandschaft, bei dem sich mit jedem Schritt neue Schattenräume auftun, vertraute Konturen in ein anderes Licht oder vielmehr in anderes Dunkel gerückt werden. Es ist ein Essay, der nicht nur argumentiert, sondern sinnlich spürbar macht, was wir verloren haben und was wir wiederfinden könnten, würden wir dem Dunklen wieder mehr Raum gewähren.
Dunkelheit ist kein Klagelied auf die moderne Welt, sondern vielmehr eine poetische Erinnerung daran, dass auch das Dunkle seinen Platz braucht. Vielleicht liegt gerade in dieser Sanftheit seine Kraft.
Lisa-Viktoria Niederberger, Dunkelheit. 248 Seiten gebunden.Haymon Verlag, 2025