Margit Mössmer über Das große farbige Tierlexikon

Autorinnenfoto von Minitta Kandlbauer | Text von Margit Mössmer

Mein Lieblingsbuch aus der Kindheit hat keinen Buchrücken mehr. Es sieht aus, als wäre es viermal um die Welt gereist und durch Polarlandschaften, Wüsten und tropische Regenwälder geschleppt worden. Mein Lieblingsbuch aus der Kindheit hat 544 Seiten. Nicht nur ich habe dieses Buch als Kind gelesen und vor allem betrachtet, sondern auch schon drei Geschwister vor mir.

Das Große farbige Tierlexikon von Wilhelm Eigener versammelt 4000 eben farbige (und was für Farben das sind!), gezeichnete Tierabbildungen, vom Flohkrebs bis zum Mandrill. Dabei ist jedes der Tiere auch mit seinem lateinischen Namen versehen, was die Lektüre magischer, aufregender, für Nicht-Wissenschafterinnen rätselhafter macht. Die begleitenden Texte der Wissenschaftler, das liegt auf der Hand, waren mir damals nicht so wichtig.* Wichtig waren die Zeichnungen. Es gab nichts, das mehr zu mir gesprochen hätte. Alle Tiere, die es gab, waren abgebildet. In diesem Buch hatte man, hatte ich, die Welt im Griff. 

Heute, wo ich jedes beliebige Wesen googlen kann, schaue ich immer noch gerne im Register nach, suche nach der Nachtigall oder dem Kolkraben, gebe mich dem Farbspiel der Papageiengefieder hin, erfreue mich an der Hautstruktur des fetten Mississippi-Alligators. Ich überwinde Kontinente, indem ich vom Koala (S. 399) zum Kudu (S. 495) zum Thunfisch (S. 210) Thunnus thynnus (Linnaeus) springe, und entdecke dort den Schwertfisch der à la „Das könnte Sie auch interessieren“ direkt daneben abgebildet ist. 

Wilhelm Eigener soll viel um die Welt gereist sein, um die Tiere unseres Planeten zu studieren. Er zeichnete sie möglichst „korrekt“ und „naturgetreu“, wie es sich für eine Enzyklopädie gehört. Und doch hat er sich mit seinem Werk durch die Freiheit, die die Zeichnung ihm schenkte, im Bereich der Kunst angesiedelt. Durch die klitzekleine Unschärfe der Zeichnung, die eine Naturfotografie nicht bietet, kann man als Betrachter:in selbst etwas Klitzekleines hineinlegen.

Zurück bleibt diese kindliche Sehnsucht nach Vollständigkeit, die ich im Netz nicht erreichen kann. Vielleicht ist es diese Sehnsucht, die mich die 544 Seiten immer wieder aufschlagen lässt.

*Das liest sich dann so: Die Seezunge liebt schlammigen Grund, in den sie sich einwühlt. Ihre Nahrung besteht aus dem bei allen Plattfischen beliebten Sortiment von kleinen Mollusken und Krebsen bis hin zu kleinen Fischen.


Margit Mössmer, 1982 in Hollabrunn geboren, ist Autorin und Kulturvermittlerin. 2023 erschien ihr Roman „Das Geheimnis meines Erfolgs“ im Leykam Verlag – eine Geschichte, die aus der Perspektive eines Kindes erzählt wird.

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