„Abends träume ich von Dotterland.“ Karoline Therese Marths Dotterland

REZENSION Katharina Peham, 25. August 2023

Abends träume ich von Dotterland. Ich beiße auf meine Unterlippe, bis sie blutet, und sauge daran. Der metallische Geschmack erinnert mich an den Dotter meines weichgekochten Frühstückseis. Ich stelle mir einen Dottersee, einen Dotterwald und einen Dotterprinzen auf einem Dotterpferd vor. 

Dotterland ist die Sicherheitszone und Wunschwelt von Kathlen. Sie katapultiert sich gerne in diese Welt, besonders, wenn die Realität hart und unnachgiebig daherkommt: Sie wächst in Wien mit einem Bruder auf, die Eltern tragen ihren eigenen Kampf aus, es kommt schließlich zur Scheidung. Kathlen begreift sehr schnell, dass Erwachsene mit ihren eigenen Sorgen kämpfen müssen und Kindern oft nichts anderes übrig bleibt, als sich mit sich selbst zu beschäftigen. Dabei kommt Kathlen auf verschiedenste Gedanken, nachdem auch beim Tod ihres Urgroßvaters niemand mit ihr redet: 

Die Hölle ist für mich ein roter, dunkler Ort, an dem ich mit anderen Kindern auf unserem dunkelgrünen Sofa sitze und Smarties aus einer Jausenbox esse […]

Kathlen ist die meiste Zeit auf sich allein gestellt und verbringt die Zeit am liebsten mit ihrer besten Freundin Lena. Als Lena in eine andere Ganztagesschule wechselt, bricht für Kathlen eine Welt zusammen. Sie findet keine Freund:innen, ein Mädchen findet sie interessant, dieses verschwindet aber für immer. Auch hier wird Kathlen mit dem Suchen nach dem Warum allein gelassen. Schnell stellt sie fest: 

Manchmal habe ich Angst, es gibt sie wirklich, die zwei Gruppen von Menschen. Die einen, für die alles leicht ist, und die anderen, die es immer schwer haben. 

Karoline Therese Marth, Dotterland. Literaturverlag Droschl 2023, 120 Seiten, € 21.

© Antonia Schneider

Karoline Therese Marth wurde 1995 in Wien geboren, wo sie auch lebt. Sie studiert Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Bisher veröffentlichte sie Kurzprosa, Lyrik und Hörstücke. Für einen Auszug aus Dotterland erhielt sie 2019 den Retzhofpreis, 2022 das Startstipendium für Literatur und das Projektstipendium für Literatur. Dotterland ist ihr erstes Buch.

Schließlich kommt Kathlen in die Pubertät. Fehlende erwachsene Begleitung und ihre geringe Begabung, Freundschaften zu knüpfen und erhalten, lassen ihre brüchige Schale zerbersten und Kathlen erleidet viel Kummer: erste Beziehungen zerbrechen, genauso wie vermeintliche Freundschaften. Zwischen Identitätsfindung und sexueller Orientierungsphase wächst Kathlen zu einer jungen Frau heran, die Drogen probiert, Party macht, Schule verweigert und Selbstverletzungen als Ventil für all die extremen Gefühle erlebt: 

Ich male Wörter auf meine Haut. Reicht das nicht mehr, ritze ich sie ein. Harte eckige Buchstaben, die dunkel verkrusten und anders aussehen als ihre Filsstiftvorgänger.

In der Oberstufe sind Kathlen und Lena wieder vereint, wenngleich ihre Interessen und Ansichten sich verändern und ein Streit den Ausschlag gibt, dass nun Lena, die einzig stabile Konstante im Leben, spurlos verschwindet. Was bleibt, ist ihr ständiger Begleiter: die Angst. Die Angst, nicht gut genug zu sein, die Angst zu versagen, oder gesellschaftlich abzustürzen. Die Angst, allein bleiben zu müssen und niemanden mehr zu haben, aber auch die Angst, was man sagen darf und zu wem: 

Ich weiß nicht, ob es gut ist über Sachen zu sprechen. Ich erzähle zu viel, zu wenig oder das Falsche. Manchmal erzähle ich auch das Richtige, aber den falschen Menschen.

Dotterland ist ein Coming-of-Age Roman der besonderen Art. Wild, laut und ungestüm begegnet man der Hauptfigur als Kind, trotzig, ängstlich, apathisch und leise dem Teenager. Marth beschreibt eine aufregende Kindheit in Wien, die sich zwischenzeitlich Ausflüge nach Niederösterreich und ins Burgenland gönnt. 

Spannende Aspekte dieses Buches sind vor allem die unfertigen Nebenstränge des Buches. Nach der Scheidung der Eltern, geht der Vater auf Tauchstation, er meldet sich jahrelang nicht, zeitgleich setzt eine vermeintliche Belanglosigkeit der neuen Lebensgefährten der Mutter ein. Marth beschreibt hier das Entwickeln einer Bindungsangst durch den Verlust des Vaters. Die Angst wird an verschiedenen Stellen im Buch zum Ausdruck gebracht:

Meine Angst ist lila, stachelig und traurig. Meine lila Angst kann zwar nicht sprechen, aber zuhören. 

Ein weiterer Nebenstrang ist die Hassliebe zum Bruder, der zunächst als wichtiger Verbündeter auftritt gegen die Erwachsenen. Als er schließlich nach Amerika reisen darf, obwohl Kathlen einen ähnlichen Wunsch äußerte, reagiert sie mit Eifersucht und Enttäuschung. Marth hat dies fein eingewebt in Andeutung und ein paar Nebensätzen, sie machen aber einen wesentlichen Teil des Buches aus:

Sie bilden damit Ankerpunkte für eine Geschichte, die Verwirrung stiftet und sich galant zwischen (Selbst)lüge und maßloser Ehrlichkeit bewegt. Zudem bieten sie einen Anhaltspunkt für Lesende, denen die Referenzen auf die Nullerjahre fremd sind. 

Marth lässt nostalgiebedürftigen Erwachsenen ausrichten: Es gibt nicht nur Schönes am Erwachsenwerden, es ist anstrengend, gefühlsextrem und angstmachend. Man braucht sich diese Zeit nicht wieder herbeisehnen, niemand will zurück in die Zeit, in der man überbordende Gefühle nicht einordnen kann.

Wer eine Referenzliste an Liedern, Büchern, Serien der 2000ender sucht, wird sie daher in diesem Buch nicht finden, zum Leidwesen einiger Leser:innen. Der Weg zu älterem Lesepublikum ist geebnet, den Weg zu jungem Lesepublikum wird dieses Buch trotz der interessanten Thematiken schwerer finden: was dem Buch tatsächlich fehlt, ist eine jugendlichere, auffallende Aufmachung, der glänzende Einband mit dem glänzenden Schutzumschlag war dann gut gemeint, weniger wäre in diesem Fall mehr gewesen. Gut gelungen ist jedenfalls die neuartige Strukturierung des Buches: Statt gewöhnlichen Kapitelmarken wurden die Lebensjahre und der Wohnbezirk in Zahlen angegeben. Auch gut gelöst ist die Dialogsetzung im Buch. Ebenso erfreulich ist die Verwendung von ungebleichtem, dickerem Papier, das auch eine tolle, optische, sowie haptische Erfahrung bietet. 

Es bleibt zu hoffen, dass Karoline Therese Marth noch einige Bücher schreiben wird, die so unverhohlen und direkt ins Herz gehen. Dotterland ist ein sehr gelungenes Debüt, das ehrlich und schlau eine Kindheit und Jugend in der Großstadt festhält. Man braucht sich die Jugend nicht wieder herbeisehnen, dieses Buch erlaubt einen kleinen Ausflug in die Adoleszenz, ganz ohne Herzschmerz, dafür mit literarischer Gefühlsachterbahn.

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