Briefe: Ratgeber der Menschheit 

ESSAY Julia C. Eichhorn, 17. April 2023

Ein Mann, der im Dunkel des Bunkers eine Liebeserklärung an seine Frau hinkritzelt, ein Poet, der ausschweifende Ratschläge gibt, ein Mädchen, die ihre Ängste mit zitternden Fingern ihrem Tagebuch anvertraut. Intime Zeugnisse der Leben dieser Menschen. Kaum näher kann man als Leser*in den Schreibenden sein. 

Mit voyeuristischem Genuss ergötzt man sich, auf seinem Lieblingssessel eingerollt, an diesen Rufen oft vergangener Zeiten. Schon lang ist diese, doch sehr menschliche Schwäche, am Buchmarkt bekannt und wird zu Geld gemacht. Bereits Anfang des ersten Jahrhunderts n. Chr. veröffentlichte Plinius der Jüngere, ein Politiker, Anwalt, Redner und Schriftsteller der Römischen Kaiserzeit, Bücher, die seinen Briefwechsel mit Familie, Freunden und Bekannten festhielten. Diese wurden wahrscheinlich überarbeitet, glattgestrichen, ausstaffiert, aber dennoch hatte er damit ein neues Genre begründet. Plinius strebte nach Ruhm, nach Unsterblichkeit. Viele andere Briefwechsel in unserer Geschichte wurden jedoch nach dem Tod der Verfasser*innen veröffentlicht. Als Mahnmal, als Ratgeber, zur Erinnerung an vergangene Zeiten. Goethe, dessen Korrespondenz übrigens eine stolze Reihe von sechs dicken, großen Bücher füllt, schrieb: „Wer das Vergangene kennte, der wüßte das Künftige.“ Es steckt also mehr dahinter als die reine Lust in ein fremdes Leben einzutauchen. Wir in der Gegenwart brauchen die manchmal sachlichen, manchmal traurigen, manchmal sehnsuchtsvollen Worte der uns Vorangegangenen. Wir müssen die Vergangenheit kennen, um die Gegenwart zu verstehen.

Die Briefe, die Rainer Maria Rilke an Franz Kappus schrieb, und unter dem Namen „Briefe an einen jungen Dichter“ veröffentlicht wurden, sind bis heute ein Anker für junge Schriftsteller*innen, die von diesem großen Poeten zu Geduld mit sich selbst und Demut den eigenen Gefühlen gegenüber aufgefordert werden. Anne Frank schrieb ihrer Tagebuch-Freundin Kitty in Briefform von ihrem Leben als Untergetauchte und in „Hochzeit von Ausschwitz“ von Erich Hackl wird das Leben des Widerstandskämpfers Rudolf Friemel aufgearbeitet. Dieser bekommt erst gegen Ende des Buches eine Stimme, und zwar ebenfalls in Form von Briefen, die er an seine Frau schrieb, während er im Bunker in Ausschwitz saß, wartend auf seine Exekution. In seinem letzten Brief vom 14. Dezember 1944 steht: „[…] Es gibt gute Neuigkeiten. Sie werden uns nicht hinrichten, sofern es nicht noch zu Komplikationen kommt. Zu 90 % sind wir gerettet.“ Später wird Margarita erfahren, dass er noch im selben Monat gehenkt wurde. 

Alle drei Bücher entführen uns in die Lebensrealität dieser beeindruckenden Persönlichkeiten und geben ihren Charakter, aber auch ihre Ängste und ihre Hoffnungen ohne Widerstand preis. Die Entfernung, die bei erzählenden Romanarten entstehen kann, hat bei Briefen kaum eine Chance. Diese Menschen haben uns Einblick in ihr Leben gegeben und dadurch wird ihre Mitteilung umso stärker. 

Mit moderneren Büchern wie „Briefe an die chinesische Vergangenheit“ von Herbert Rosendorfer oder „Gut gegen Nordwind“ von Daniel Glattauer wird deutlich gemacht, dass Briefromane weiterhin auf rege Begeisterung stoßen, auch wenn sie fiktiv sind. Die Autoren nutzen die Nähe, die sie mit dieser Form erreichen können und wie wir wissen, mit großem Erfolg. Obwohl „Gut gegen Nordwind“ streng genommen ein E-Mail-Roman und kein Briefroman ist, spiegelt er doch unsere derzeitige Lebensrealität wider. Wer schreibt denn auch heutzutage noch Briefe? In Anbetracht der reichen Schätze, die wir durch sie erhalten haben, sollten wir jedoch vielleicht wieder öfter zu Stift und Papier greifen. Wer weiß, wie die Technologie späterer Generationen aussehen wird, aber einen Brief, den ich heute an meinen Liebsten schreibe, werden die Nachfolgenden immer noch vorsichtig aus dem Kuvert nehmen können, um abzutauchen in meine Welt.


Julia C. Eichhorns Liebe zur Literatur hat sie dazu inspiriert, selbst zu schreiben und sich als Lektorin ausbilden zu lassen. Sie lebt als freie Lektorin in Wien. https://www.zumgoldenenbison.com

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