REZENSION von Marlene Gölz, 15. November 2024
„An der Wand hinter Ramona hing ein Wandschoner aus Stoff, auf ihn war ein Satz gestickt: „Ich bin gekommen, um Gelerntes zu vergessen“. Ja, das war es eigentlich, ich fühlte mich gemeint, das Bier begann mir zu schmecken.“
„Das ganze ist wie eine Wunderkammer (…)“ heißt es in der Erzählung „Dreh den Mond um“, die titelgebend ist für das neue, Ende Oktober erschienene Buch von Bachmann-Preisträger Tex Rubinowitz, und ein wunderbares Kuriositätenkabinett für sich ist auch jede einzelne der 21 Geschichten darin. In jeder kommt ein Ich-Erzähler vor, der sich einmischt in die Leben von Künstlern, Musikern, Schauspielerinnen und Schriftstellerinnen, ein Zeuge und Chronist, der durch die Zeit reist und Legenden fortschreibt, einer, der „etwa 25 Mal mehr sehen (kann) als andere Menschen“ – wie in „Seksuele Genezing“, der ersten Story, die in Ostende spielt. Darin trifft der Erzähler auf Marvin Gaye, der (das stimmt wirklich!) Anfang der 80er-Jahre dort gelebt hat. „Ich konnte es nicht fassen, bestellte mir ein Kirschbier und sprach die, wie ich fand, für mich inszenierte Situation an: „Mr. Gaye?“ Ob der in der Geschichte geschriebene Song „Sexual Healing“ ein Gemeinschaftswerk der beiden ist sei dahingestellt, doch spielt der Wahrheitsgehalt für diese Lektüre naturgemäß keine Rolle. „Möglich, möglich ist alles, wenn nichts möglich wäre, wären wir nicht hier. Das Unmögliche wird zum Angebot, aus dem wir etwas für uns konstruieren können, das ist der Fisch, der an Land geht“, legt der Autor dem US-Soulsänger in den Mund, dessen letzter Hit sich millionenfach verkaufte und so etwa wie „ein Haushaltsgegenstand“ wurde. Auch wenn es das keinesfalls braucht und manche abraten – kaum jemand wird sich davon abhalten lassen, ergänzend nachzulesen, was die Google-Suche so hergibt: Rita Pavone, Pepper LaBeija, Petula Clark, Wie sehen die Augen der Feuersteins noch mal aus? Und was hat die Schauspielerin Peggy Entwistle, so sie existierte, mit dem Buchstaben „H“ des berühmten Hollywood-Schriftzuges zu tun?

Tex Rubinowitz, geboren 1961 in Hannover, lebt seit 1984 in Wien, zeichnet Cartoons für verschiedene Zeitungen, schreibt, macht Musik mit seiner Band Mäuse und stickt auf Stoff. 2014 Gewinn des Ingeborg-Bachmann-Preises, zahlreiche Bücher, mehrere Platten, noch mehr Stickstoffe. Foto © Hertha Hurnaus
Einen „Psychogeographen“ nennt sich Tex Rubinowitz. „Als ich sie fragte, ob sie denn wisse, was ein Psychogeograph so mache, antwortete sie, ja, das wisse sie: Er vermisst die Topographie des Zufalls.“ Wobei vermessen ebenso vermissen bedeuten kann, und man meint eine gewisse Nähe in dieser Literatur gewordenen künstlerischen Herangehensweise zu erkennen: den Begriff „Topographie des Zufalls“ prägte der Künstler und gute Freund Rubinowitzs, Daniel Spoerri, Erfinder der „Fallenbilder“, der 94-jährig, kurz nach Erscheinen des Buches „Dreh den Mond um“ verstorben ist.
„Alles fließt ein“, schreibt Tex Rubinowitz in der Erzählung „Algorithmusraten am Nachmittag“, „und dann siebt man aus, oder setzt noch eins drauf (…) Es fühlt sich an wie Druck von unten. Man drückt mit einer kleinen Geschichte von unten nach oben ins Uferlose. Am Ende muss sich der Kreis aber schließen, ausfransen ist ok, aber hinterher muss die Tür zugehen.“ So absurd, explosiv und lustig das Buch ist, so traurig, melancholisch und voller Schmerz ist es auf der dark side, der anderen Seite des Mondes. Man mag sich während des Lesens und erst recht hinterher fragen wie es zugehen konnte, dass sich plötzlich alles mit allem, also auch mit einem selbst verbindet, sich das „fröhlichste Abschiedslied aller Zeiten“ auf der eigenen Playlist findet, und was das alles mit Doo Wop und der Geburtsstunde des HipHop zu tun hat: Erzählerisch, so man diese Geschichten noch fassen kann, ist am Ende die Sache rund. In einem „Klassentreffen der außerweltlichen Art“ lässt der Autor in „Das Theater in der Hosentasche“ dann auch alle noch mal zusammenkommen. Zuklappen und ins Regal stellen wird man dieses Buch hinterher aber nicht, zu sehr wollen diese Geschichten weitererzählt, -gehört, nachgeschlagen und vorgelesen werden und so ist es Tex Rubinowitz gelungen, selbst so etwas wie einen Haushaltsgegenstand zu schreiben.
Tex Rubinowitz, Dreh den Mond um, Ventil Verlag, Mainz 2024, 272 Seiten, (AT)€21,50