Foto © Dietmar Prantner
Seit ich lese, weiß ich, die allermeisten Bücher passen in eine konkrete Schublade. Mit einem Cowboy auf dem Cover landet es bei Western, mit einem Raumschiff bei Science-Fiction und mit einem Drachen bei Fantasy. Daran habe ich mich als Leser auch nie gestört. Im Grunde lese ich alles aus allen Schubladen. Nur als Autor habe ich vielleicht noch nicht gelernt, für eine vorhandene Schublade zu schreiben. Wahrscheinlich ist deshalb auch mein liebstes Kinder- und Jugendbuch das erste Buch, das ich als Buch mit eigener Schublade in guter Erinnerung habe – „Der Denker greift ein“ von Christine Nöstlinger.
Die Handlung: In einer Schulklasse wird eine goldene Uhr gestohlen. Das Diebesgut taucht im Bankfach eines Schülers auf, von dem niemand einen Diebstahl erwartet hätte, von dem sich aber auf einmal alle sicher sind, dass nur er der Dieb sein könne und ja alle es immer schon gewusst hätten – von den Erwachsenen bis zu den Kindern. Nur seine Freunde, der „Denker“, Lilibeth und „Pik Ass“, sind von seiner Unschuld überzeugt und setzen alles daran, eben diese Unschuld auch zu beweisen.
„Der Denker greift ein“ ist ein Schulroman ebenso wie ein Detektivroman – für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Das Buch behandelt Fragen von Schuld sowie Gerechtigkeit und Gesetz sowie Moral und spricht sich bei der Beantwortung dieser Fragen für den Gebrauch eines kritischen Denkens aus, das als gegeben Geltendes immer hinterfragt. All das hat Christine Nöstlinger nicht mit dem Holzhammerschlag vermittelt, sondern auf feine Weise. Dafür haben die Charaktere Ecken und Kanten. Der titelgebende Denker ist klug mit klarem systematisch vorgehendem Verstand, pflegt aber doch seine Schrullen. Anders gesagt: Perfekt ist er eben nicht – kein aalglattes Genie, sondern ein Protagonist, mit dem ich mich identifizieren konnte, der in gewisser Weise ein Vorbild war und den ich aber auch gerne zum Freund gehabt hätte.
Freundschaft ist ein wichtiges Stichwort: „Der Denker greift ein“ vermittelt vor allem den unbezahlbaren Wert von Solidarität und richtet sich gleichzeitig gegen Vorurteile. Für mich ist es ein besonderer Roman, weil sich Nöstlinger gegebene Erzählformen zu eigen gemacht hat, aufbereitet mit guten Gedanken, gleichermaßen für Jung und Alt. So hat sie diesem Buch seine eigene Schublade gleich mitgebaut.

Bei dem fotografierten Exemplar handelt es sich um eines aus einer späteren Auflage, mein Buch war leider gerade nicht auffindbar – meines war eine Ausgabe aus dem Verlag Wien, Jugend & Volk bei Dachs (1994)
Markus Grundtner, geboren 1985 in Wien, früher Arbeitsrechtler auf kleiner Kanzleibühne, mittlerweile Jurist in der Rechtsabteilung der Wiener Staatsoper, aber immer Autor. Studienabschlüsse in Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie in Rechtswissenschaften (Universität Wien). Veröffentlichungen von Kurzprosa in Literaturzeitschriften (u.a. in: Am Erker, Die Rampe, erostepost, manuskripte und Podium), in Anthologien und auf Ö1. Diverse Stipendien und Preise. 2022 erschien sein Debüt „Die Dringlichkeit der Dinge“ (Nominierung Österreichischer Buchpreis), eine Mischung aus Anwalts- und Justizroman, im Herbst 2024 dann „Der Fall der Fantasie“, ein fantastischer Justizroman (beide im Verlag edition keiper).