Leben ohne Hunger: Erwin Uhrmanns Zeitalter ohne Bedürfnisse

REZENSION 14. August 2025 Barbara E. Seidl-Reutz

Es gibt Zukunftsentwürfe, die uns mit Technik, Fortschritt oder Katastrophen ködern. Erwin Uhrmann tut mit Zeitalter ohne Bedürfnisse das Gegenteil: Er entwirft eine Welt, in der der Mensch nicht mehr vom Hunger getrieben wird. Irgendwann im Erwachsenenalter endet hier der Stoffwechsel. Der »Ausgleich« ersetzt die Nahrungsaufnahme, und mit dem Hunger verschwindet ein ganzer Strang menschlicher Triebgeschichte. Was bleibt, ist ein Dasein zwischen Wiederverwertung und Wetterflucht.

Die namenlose Stadt, in der sich alles abspielt, liegt in einer unbestimmten Zeit, vielleicht in einem postapokalyptischen Österreich. Anhaltende Stürme zwingen die Menschen unter die Erde. Der Kerzenmarkt ist ein beliebter Treffpunkt, weil Kerzen noch funktionieren, wenn alles andere flackert. Staatliche oder wirtschaftliche Ordnung existiert nicht mehr und Kinder gelten im Stadtkern als Makel. Sie brauchen Nahrung, sie verbrauchen Energie, sie verkörpern die Abhängigkeit, die man hinter sich gelassen hat.

In dieser Welt begegnen wir Silvia. Die junge Frau lebt in einer freigewordenen Wohnung unter der Erde und ist froh, ihrer lieblosen Mutter entronnen zu sein. Eines Tages findet sie ein Neugeborenes auf ihrer Schwelle. Sie nennt es Darko, was im Slawischen „Geschenk“ oder „Begabung“ bedeutet. Sie behält das Kind und hält es am Leben, obwohl jede Logik der Umgebung dagegenspricht. Darko wächst heran und beginnt seine Streifzüge. Seine Wege führen ihn zu anderen Menschen, die ebenso existieren wie sie leben, ohne sichtbare Ambitionen, ohne Drang nach etwas „Neuen“.

Erwin Uhrmann (Portrait: eSeL / eSeL.at – Lorenz Seidler), geboren 1978, lebt und arbeitet in Wien. Von ihm erschienen bisher die Romane Der lange Nachkrieg (2010), Ich bin die Zukunft (2014), Toko (2019) und Zeitalter ohne Bedürfnisse (2024), die Erzählung Glauber Rocha (2011), die Lyrikbände Nocturnes (2012) und Abglanz Rakete Nebel (2016) sowie der Musik-Lyrikband K.O.P.F. Kartografisch Orientierte Passagen Fragmente (2021, gemeinsam mit Karlheinz Essl). Er ist Herausgeber der Reihe Limbus Lyrik und arbeitet als Redakteur für das Spectrum der Tageszeitung Die Presse. Gemeinsam mit Johanna Uhrmann schreibt er Reisebücher. http://www.erwinuhrmann.com

Erwin Uhrmann schreibt ohne Anklage und ohne Heilsversprechen. Sein Stil ist nüchtern, aber geht unter die Haut. Er zeigt, wie Menschen ihre Tage füllen, wenn Konsum und Expansion nicht mehr als Optionen gelten. Es gibt Tabus, es gibt Mängel, aber kaum Gewalt. Wer nichts besitzt, muss nichts verteidigen. Doch der Roman ist kein verklärter Blick auf eine perfekte Gesellschaft. Darkos Reise mündet in der Erkenntnis, dass ihn nirgendwo eine andere Zukunft erwartet. „In der Stadt zu sein, mit den anderen, einfach dahinzuleben. Darin, verstand Darko, lag aller Sinn.“

Der Autor lässt einige Antworten offen. Was bleibt, ist das Bild einer Gesellschaft, die nicht nach Optimierung strebt, sondern im Reparieren und Erhalten Sinn findet. Vielleicht ist das die eigentliche Provokation dieses Buchs: nicht das Wegfallen des Hungers, sondern die radikale Vorstellung, dass wir auch ohne ständiges Streben existieren könnten – und dass darin, ganz ohne Pathos, etwas Gutes liegen mag.


Erwin Uhrmann, Zeitalter ohne Bedürfnisse. LIMBUS Verlag, 2024.208 S., gebunden mit Lesebändchen.

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