Allein im Wald leben dürfen, Fanstasiegestalten, Romantik, Grusel, Abenteuer, und dann wird auch noch ständig geflucht und gefurzt – Ronja Räubertochter von Astrid Lindgren hatte alles, was ich mir als Kind von einer Geschichte gewünscht habe. Es gibt kein Buch, das ich so oft gelesen habe, wie dieses, keinen Film, den ich so in und auswendig konnte, wie Ronja Räubertochter. Und noch mehr. Ronja Räubertochter hat meinen literarischen Geschmack auf eine Art und Weise geprägt wie kaum etwas anderes. Ich bin dank Ronja ein kompletter Sucker für Heldinnenreisen, für Frauen allein im Wald. Auf Ronja Räubertochter folgen als Teenagerin hunderte Stunden vorm PC mit Lara Croft. Dann lese ich mit Zwanzig „Die Wand“ von Marlen Haushofer und „Wald“ von Doris Knecht, beide Exemplare mittlerweile so geliebt und zerlesen, dass die Buchrücken brechen. Jetzt bin ich Ende Dreißig und träume von Solo-Weitwandern in der Tundra (oder irgendwo ohne Menschen) und mein Guilty-Pleasure sind die Fantasyromane von Sara J. Maas. Ich bin außerdem eine, die besondere Bücher wieder und immer wieder liest. Irgendwann dieses Jahr greife ich also aus Nostalgie zu Ronja Räubertochter, und natürlich passiert, was passieren musste: Der erwachsene Blick auf ein Artefakt der Kindheit hat ihm all seinen Zauber genommen. Ich wünschte, ich hätte es nicht gelesen. Wünschte, ich hätte mich auf die Erinnerungen beschränkt. Denn in Ronja Räubertochter stinkt die patriarchale Scheiße bis hinter die Grenzen des Matthiswaldes. Mattis, Ronjas Vater und Räuberhauptmann, ist die Bilderbuchdefinition von toxischem, übergriffigen Man-Child. Und auch seine Frau, Lovis, die ich als die wahre Herrscherin der Räuberbande in Erinnerung hatte, so durchsetzungsstark, dass sich ein Haufen wilder Kerle nackt in den Schnee jagen lässt, weil sie Wäsche waschen möchte, entpuppt sich als Komplizin des Patriarchats. Auch sie macht mit bei der großen Erpressung der Tochter. Für alle, die Ronja Räubertochter nicht kennen, hier das Problem: Matthis entführt Birk, den Sohn seines Rivalen, mit dem Ronja heimlich befreundet ist. Als Ronja sich selbst opfert, damit Birk frei kommt, ist Matthis von diesem Vertrauensbruch so erschüttert, dass er sie enterbt. Muss man sich vorstellen: Sein Kind will nicht, dass er ein anderes Kind gefangen hält und dieser erwachsene Mann reagiert damit, dass er Ronja verstößt. Ronja und Birk verbringen einen wunderschönen Sommer, in dem sie zusammen Abenteuer erleben und in einer Höhle im Wald hausen. Als der Winter immer näher rückt, macht sich Ronja natürlich Sorgen, wie sie in der Höhle überleben sollen, sie weigert sich aber, nach Hause zu gehen, bevor Mattis sich bei ihr entschuldigt hat. Eines Abends bekommt sie Besuch von ihrer Mutter, und erklärt auch ihr, ohne Entschuldigung keine Rückkehr. Und was macht Lovis, diese elendige Mittäterin? Sagt zu Ronja „Wenn du nicht wieder kommst, dann wird es damit enden, dass dein Vater in den Fluss springt.“ Das Kind – das zehnjährige Kind, das verstoßen wurde, weil es das Leben eines anderen Kindes beschützt hat- bekommt also nun auch noch die Verantwortung für das Leben eines Erwachsenen umgehängt. Und mit dieser Erkenntnis ist für mich wirklich jegliche Magie verloren, die Ronja Räubertochter für mich hatte. Es ist mir egal, dass das Buch aus einer anderen Zeit stammt, dass Vaterfiguren bei Lindgren durch die Bank enttäuschend sind. Das sind alles schlechte Ausreden. Der Protagonistin – und damit den Leser*innen wird vermittelt: Du als Kind bist für die Gefühle deiner Eltern verantwortlich. Ronja Verhalten hat Einfluss darauf, ob Mattis Suizid begehen wird, oder nicht. Zumindest wird ihr das von ihrer Mutter suggeriert. Und das finde ich unverzeihlich. Kein Kind ist für die Gefühle seiner Eltern verantwortlich. Keines. Niemals. Kein Kinderbuch sollte das behaupten, keine Figur. Mit Herzschmerz, Wehmut und einem ordentlichen Grant werde ich also Ronja Räubertochter wieder ins Regal stellen, und es wahrscheinlich für lange Zeit dort stehen lassen. Ich werde es keinen Kindern schenken, vorlesen oder empfehlen. Lieber erfinde ich meine eigene Geschichte von Wald, Abenteuer, Dunkeltrollen und erster Liebe. Und Mattis und Lovis können sich zum Donnerdrummel scheren.
Lisa-Viktoria Niederberger, geboren 1988, lebt als Schriftstellerin und Kulturwissenschaftlerin in Linz. Ihr Schreiben geht oft Zusammenhängen, feinen Verbindungen und feministischen Fragestellungen nach und scheut sich nicht, nach Schönheit auch an den allerdunkelsten Orten zu suchen. Ihre Prosa wurde u. a. mit dem Kunstförderpreis der Stadt Linz, dem Theodor-Körner-Förderpreis und dem Exil-Literaturpreis ausgezeichnet. Im Frühjahr 2024 erscheint Helle Sterne, dunkle Nacht ein Kindersachbuch über Lichtverschmutzung im Achse Verlag. Im März 2025 erscheinen ihre literarischen Essays über die Dunkelheit bei Haymon.