von Eva Schörkhuber
Wie für viele Kolleginnen und Kollegen meiner Generation war mein erstes und wichtigstes Kinderbuch „Das kleine Ich bin Ich“ von Mira Lobe: Mit ihm habe ich lesen gelernt. Noch bevor ich einen Buchstaben von einem anderen unterscheiden konnte, habe ich beim Vorlesen daraus mitgesprochen. Jedes Wort war mir dabei so vertraut, dass ich es mühelos wiedererkennen, mir aus den aneinandergereihten Zeichen den richtigen Reim machen konnte.
Wenige Zeit später trat eine andere Geschichte, die für mich von besonderer Bedeutung wurde, in mein Leben. Es muss an einem dieser endlosen Nachmittage während der Weihnachtsfeiertage gewesen sein. Ich saß auf dem graubraunen Sofa im Wohnzimmer und durfte, ohne genaue Programmauswahl, fernsehen. So bin ich, ganz zufällig, auf die Geschichte des gelockten, barfüßigen Mädchens gestoßen, das gemeinsam mit ihren Freundinnen und Freunden die grauen Männer, die den Menschen ihre Zeit stehlen, zur Strecke bringt. Besonders gefesselt haben mich damals der Gesichtsausdruck von Momo, den sie trägt, wenn sie ganz Ohr ist, und die unheimlichen Männer mit ihren stets verqualmten fahlen Gesichtern. Ein, zwei Jahre später las ich dann das Buch, wobei ich mich lange nicht von den Eindrücken der Verfilmung lösen konnte. Erst im Laufe der Zeit, bei vielen wiederholten Lektüren, ist es mir gelungen, mir eigene Bilder von dieser Geschichte zu machen.
„Momo“ hat mich, schon als Erwachsene, auch auf meiner ersten längeren Reise außerhalb Europas begleitet. Die Frage nach der Zeit, ihrem Vergehen, aber auch nach ihrer unterschiedlichen Wahrnehmung hat mich damals sehr beschäftigt. Ich war getrieben von dem Gedanken, wie ich meine Lebenszeit verbringen wollte, wie ich dem Zeitdruck, der meinen Lebenslauf immer weiter zusammenzupressen schien, entgehen konnte. Auch heute denke ich, dass dieses Buch eine Aufforderung dazu ist, einem Rhythmus zu folgen, der einer oder einem selbst ebenso wie den Begegnungen mit anderen entspricht. Der Weg ist dabei von Bedeutung, die Bewegung, und nicht das, was sich erreichen, was sich verwerten und konsumieren lässt. In diesem Sinne lese ich „Momo“ als anti-kapitalistische Parabel und halte es für ein großes Glück, dass es Kinderbücher dieser Art gibt.
Mit dem Vergehen beschäftigt sich auch ein weiteres Kinderbuch, das ich erst vor wenigen Jahren kennen gelernt habe. Eine Freundin hat es mir per Post geschickt und ich habe mich, als ich es zum ersten Mal las, an jene Zeit zurückerinnert, in der ich als Kind ganz furchtbare, ganz unbegreifliche Angst vor dem Tod hatte. Meine größte Sorge war damals, was die zurückgebliebenen Menschen, Dinge und Orte wohl machen würden, wenn ich nicht mehr auf der Welt wäre. Diese Frage stellt sich die Ente in Wolf Erlbruchs illustriertem Büchlein auch. Sie blickt auf den Teich, in dem sie so gerne schwimmt, und bemerkt, dass er, sobald sie gestorben wäre, wohl immer so verlassen daliegen würde, ganz ohne sie.
Die Beziehung zwischen dem Tod und der Ente ist eine freundschaftliche, in manchen Momenten ist sie sogar richtig liebevoll, etwa wenn die Ente den Tod wärmt, nachdem er mit ihr im Teich geschwommen war. Seine Anwesenheit ist eine begleitende und keine bedrohliche, die über den Köpfen der Lebenden schwebt. Er tritt auch nicht allwissend oder gar belehrend auf, er beantwortet die Fragen der Ente so gut er kann, wobei er manchmal in Verlegenheit gerät. Der Tod in diesem Kinderbuch ist menschlich, auf allen Ebenen, und zugänglich: Niemand muss zu ihm vorauseilen, sich ihm stellen, oder sich vor ihm verstecken. Auch in diesem Buch ist es wieder der Weg, den die Ente und der Tod gemeinsam zurücklegen, und nicht ein singuläres Ereignis, das zählt und erzählt wird.
In diesem Sinne sind „Momo“ und „Ente, Tod und Tulpe“ wunderbare Wegbegleiterinnen, die nicht darauf drängen, dass Wege endlich zurückgelegt sein werden, sondern viel lieber weitere eröffnen.

Eva Schörkhuber lebt und arbeitet als Schriftstellerin, Literatur- und Kulturwissenschafterin in Wien; sie hat über Archiv- und Gedächtnistheorien promoviert und ist Mitglied der Redaktion von PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb/ Politisch Schreiben sowie des Papiertheaterkollektivs Zunder; zuletzt erschienen sind die Monografie Akte(n) der Verwahrung. Zugänge zu einem Archiv der Literatur (Wien: Praesens 2019) und der Roman Die Gerissene (Edition Atelier 2021)
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